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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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machte eine verlegene Geste. »Ich habe angerufen.«
    Mike betrachtete den Grashalm, den er gekaut hatte, und ließ ihn auf das viereinhalb Meter tiefer gelegene Laubdach fallen. »Ja. Meine Moni hat heute nachmittag auch angerufen. Diese Maschine war dran. Sie geht später mit einer Gruppe Frauen hin und bringt was zu essen raus. Deine Mom geht wahrscheinlich auch mit.«
    Dale nickte wieder. Ein Todesfall in Elm Haven oder auf einer der umliegenden Farmen hatte immer zur Folge, daß ein Bataillon Frauen wie Walküren hernieder-stießen und Essen brachten. Duane hat mir von Walküren erzählt. Dale konnte sich nicht mehr genau erinnern, was Walküren machten, aber er wußte noch, sie kamen herunter, wenn jemand gestorben war. Er sagte: »Ich habe seinen Onkel nur ein paarmal gesehen. Schien echt nett zu sein. Schlau, aber nett. Nicht so empfindlich wie Duanes Dad.«
    »Duanes Dad ist Alkoholiker«, sagte Mike. Seiner Stimme konnte man entnehmen, daß es kein Urteil und keine Kritik war, lediglich eine Feststellung.
    Dale zuckte die Achseln. »Sein Onkel hat... hatte weißes Haar und einen weißen Bart. Ich habe mich mal mit ihm unterhalten, als wir zum Spielen auf der Farm waren, und er war ... komisch.«
    Mike riß ein Blatt ab und zupfte es in Streifen. »Ich habe gehört, wie Mrs. Somerset meiner Mom erzählt hat, Mrs. Taylor hätte gesagt, er wäre entzweigerissen worden, als die Lenksäule durch ihn hindurch ist. Sie hat gesagt, Mr. Taylor hätte gesagt, sie können unmöglich einen offenen Sarg haben. Sie hat gesagt, Duanes Dad wäre reingekommen und hat gedroht, Mr. Taylor ein zweites Arschloch zu reißen, wenn er seinen Bruder auch nur anrührte. Mr. McBrides Bruder, meine ich.«
    Dale nahm sich auch ein Blatt. Er nickte. Er hatte den Ausdruck >ein zweites Arschloch reißen< noch nie gehört und mußte sich zusammennehmen, daß er nicht lächelte. Es war ein guter Ausdruck. Dann fiel ihm wieder ein, worüber sie sprachen, und das aufkeimende Lächeln verschwand.
    »Pater Cavanaugh war auch im Bestattungsinstitut«, sagte Mike. »Niemand wußte, welcher Religion Mr. McBride angehörte - der Onkel Mr. McBride -, daher hat ihm Pater Cavanaugh die Letzte Ölung für alle Fälle gegeben.«
    »Was ist die Letzte ... Ölung?« fragte Dale. Er war mit seinem Blatt fertig und zerriß ein neues. Ein paar Mädchen liefen weit unten vorbei und ahnten nicht einmal, daß sich zwölf Meter über ihnen leise jemand unterhielt.
    »Das letzte Ritual«, sagte Mike.
    Dale nickte, obwohl er nicht schlauer als zuvor war. Katholiken machten eine Menge komischer Sachen und gingen davon aus, daß jeder darüber Bescheid wußte. Dale war in der vierten Klasse Zeuge geworden, wie Gerry Day-singer sich über Mikes Rosenkranz lustig gemacht hatte -Gerry hatte ihn sich um den Hals geschlungen, war damit herumgetanzt und hatte Mike ausgelacht, weil er eine Halskette bei sich trug. Mike hatte kein Wort gesagt, er hatte Daysinger lediglich die Fresse poliert, war auf seine Brust gesessen und hatte sich den Rosenkranz zurückgeholt. Seither hatte niemand mehr Mike verspottet.
    »Pater C. war da, als Duanes Dad reingekommen ist«, fuhr Mike fort, »aber er wollte nichts besprechen oder so. Er hat Mr. Taylor nur gesagt, er solle seine Leichenfledder-hände von seinem Bruder lassen, und ihm mitgeteilt, wohin er den Leichnam zur Einäscherung bringen sollte.«
    »Einäscherung«, flüsterte Dale.
    »Das ist, wenn sie dich verbrennen statt zu begraben.«
    »Weiß ich, Dummkopf«, fauchte Dale. »Ich war nur ... überrascht.« Und erleichtert, wurde ihm klar. In den vergangenen fünfzehn Minuten hatte ein Teil seines Verstandes sich vorgestellt, er müßte zur Beerdigung zu Taylor gehen, den Leichnam während der Aufbahrung ansehen, neben Duane sitzen. Aber Einäscherung ... das hieß keine Beerdigung, oder doch? »Wann wird das sein?« fragte er. »Die Einäscherung?« Es war so ein erwachsenes und endgültiges Wort.
    Mike zuckte die Achseln. »Möchtest du ihn besuchen?«
    »Wen besuchen?« fragte Dale. Er wußte, daß Digger Taylor seine Freunde manchmal vor der Aufbahrung in die Leichenhalle schmuggelte und ihnen die Toten zeigte. Chuck Sperling hatte einmal geprahlt, er und Digger hätten Mrs. Duggan nackt gesehen, als sie im Einbalsamierungszimmer gelegen hatte.
    »Wen? Natürlich Duane«, sagte Mike. »Was meinst du denn, wen wir sonst besuchen sollen, Schwachkopf?«
    Dale grunzte, knüllte den Rest des Blatts zusammen und versuchte, sich

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