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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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den Bademantel anzog, bevor seine Mutter wieder hereinkam. Er legte sich aufs Bett, schaltete das kleine Leselämpchen ein, blätterte eine alte Ausgabe von Astounding Science Fiction durch und wartete, bis er mit Baden an der Reihe war.
    Als er unten in der steilen und beleuchteten Ecke seines Kellers war, brauchte Duane Mc Bride keine fünf Minuten, um den Code zu knacken.
    Onkel Arts Tagebuch sah aus, als hätte er es in Hindi geführt, aber es war in schlichtem Englisch. Nicht einmal Umstellungen. Natürlich kam ihm zugute, daß Dale wie sein Onkel von Leonardo da Vinci fasziniert war.
    Das große Genie der Renaissance hatte sein Tagebuch in einem sehr einfachen Code geführt; er hatte es verkehrt-herum geschrieben, so daß man es mit Hilfe eines Spiegels lesen konnte. Duane holte einen Taschenspiegel zum Schreibtisch und sah den Eintrag in Englisch vor sich, das von rechts nach links verlief. Onkel Art hatte die Worte zusammengeschrieben, damit der Code nicht „11™, sichtlich wurde; außerdem hatte er die Buchstaben oben verbunden, was dem Geschriebenen das seltsam arabische oder wedische Aussehen gab. Anstelle von Absätzen hatte er ein Symbol benützt, das wie ein auf dem Kopf stehendes großes F mit zwei Punkten davor aussah. Ein umgekehrtes F mit einem Punkt war ein Komma.
    Duane sah, daß Seite und Abschnitt, die er aufgeschlagen hatte, sich mit Problemen bei der Arbeit beschäftigten, einem Vorarbeiter der Gewerkschaft, der im Verdacht stand, Gewerkschaftsgelder zu unterschlagen, sowie einem Dialog, der ein politisches Streitgespräch zwischen Art und seinem Bruder wiedergab. Duane überflog den Absatz, erinnerte sich an die fragliche Unterhaltung - der Alte war ziemlich betrunken gewesen und hatte einen gewaltsamen Sturz der Regierung verlangt - und blätterte rasch weiter zum letzten Eintrag:
    11. 6. 60
    Habe den Absatz über die Glocke gefunden, nach der Duane sucht! Er befindet sich in Apokryphen: Nachschrift zum Buch der Gesetze von Aleister Crowley. Mir hätte klar sein müssen, daß Crowley, der selbsternannte Magier unserer Zeit, etwas darüber wissen mußte. Habe heute abend ein paar Stunden auf der Veranda gesessen und nachgedacht. Anfangs wollte ich es für mich behalten, aber der kleine Duane hat schwer an diesem hiesigen Geheimnis gearbeitet, daher entschied ich, daß er ein Recht hat, es zu erfahren. Morgen bringe ich ihm das Buch und gehe den ganzen Abschnitt über >Hilfsgeister< mit ihm durch. Der Teil über die Borgias ist eine unheimliche Lektüre. Ein paar wichtige Auszüge: >Zogen die Medici die traditionellen Tiere als Hilfsgeister und Brücken zur Welt der Magie vor, so sagt man der Familie Borgia nach, daß sie in den produktivsten Jahrhunderten der Renais-
    sance (vom Standpunkt der Ausübung der Kunst aus betrachtet) einen unbelebten Gegenstand zu ihrem Talisman erkor.
    Der Legende zufolge wurde die große Bildsäule der Offenbarung, der ägyptische Obelisk aus Eisen im Tempel des Osiris, im fünften oder sechsten Jahrhundert (christlicher Zeitrechnung) von ihrem angestammten Platz gestohlen und war lange Quell der Macht der Familie Borgia aus Valencia, Spanien.
    1455, als ein Mitglied dieser alteingesessenen Familie von Zauberern Papst wurde - eine große Ironie, da sein politischer Aufstieg auf die Dunklen Mächte dieses vorchristlichen Symbols zurückzuführen war -, bestand eine seiner ersten Amtshandlungen darin, daß er eine große Glocke in Auftrag gab. Es besteht kaum ein Zweifel daran, daß diese Glocke - die ungefähr in der Todesstunde des Borgia-Papstes nach Rom gebracht wurde - aus der Bildsäule der Offenbarung bestand, die eingeschmolzen und in eine Form gegossen worden war, welche die Massen der Christenheit, die ihrer Ankunft harrten, eher akzeptieren konnten. Man sagte von dieser Glocke, daß sie viel mehr als ein magischer Gegenstand der Art war, wie man ihn damals in jedem maurischen oder spanischen Haushalt finden konnte: Die Borjas betrachteten sie als die >Allesverschlingende<, >Allesverzehrende<. In Ägypten kannte man die Bildsäule der Offenbarung als >Krone des Todes<, und ihre Umwandlung war im Buch des Abgrunds vorhergesagt worden. Anders als organische Hilfsgeister, die lediglich als Medium fungieren, verlangte die Säule auch in ihrer Inkarnation als Glocke ihre eigenen Opfer. Der Legende zufolge opferte Don Alonso y Borja der Glocke eine neugeborene Enkelin, bevor er zum Konklave von 1455 nach Rom reiste, die ihn - wider alle Chancen - zum Papst

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