Sommer in Maine: Roman (German Edition)
gesprochen, und sie hatte sich dafür auch nicht interessiert.
Dreihunderttausend Dollar waren für Kathleen fünf Jahresgehalte und mehr als genug, um die Ausbildung ihrer Kinder zu finanzieren. Aber wenn ihr Bruder gedacht hatte, dass ihr das ein Trost sei, hatte er sich geirrt. Für ihn und seine Frau war materieller Besitz von großer Bedeutung. Kathleen wollte nur ihren Vater zurück.
Nach seinem Tod nahm sie sich eine Woche Urlaub. Sie verbrachte fünf Tage im Bett und stand nur auf, um auf die Toilette zu gehen oder sich ein Glas Wasser zu holen. Sie las keine E-Mails, schaltete den Fernseher nicht an und aß nicht. Sie wollte niemanden sehen, außer Maggie, die sich neben sie ins Bett legte und ihr mit der Hand durchs Haar fuhr. Sie sprachen nicht miteinander. Kathleen dankte dem Universum für diese von ihr geschaffene Tochter, die einzige in dieser verdammten Familie, die sie verstand.
Ann Maries hysterisches Weinen bei der Totenwache hatte Kathleen wahnsinnig gemacht.
»Am liebsten würde ich ihr eine runterhauen«, flüsterte sie Maggie zu.
»Mama –«, wies Maggie sie zurecht. Ihre Tochter benahm sich immer erwachsener als Kathleen. Doch kurze Zeit später erreichte Ann Maries Schluchzen einen neuen Höhepunkt, und Maggie hob eine Braue. Sie lehnte sich zu Kathleen rüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Was meinst du: Weint sie wegen Opa oder wegen der Golfschläger?«
Zur Beerdigung am nächsten Tag erschienen mehr als einhundert Gäste, obwohl dreißig Zentimeter Schnee gefallen waren und es noch immer weiterschneite. Kathleen schaffte es kaum, sich das dunkelblaue Kleid anzuziehen, das Maggie für sie ausgesucht hatte, weil es das einzige Kleidungsstück in ihrem Schrank war, das annähernd schwarz war.
Nach der Totenmesse gingen sie zu Pat und Ann Marie. Das Haus war voller Leute – eine blöde Tradition. Kathleen wollte niemanden sehen, und die meisten Gäste kamen ihr nicht einmal bekannt vor. Sie standen in der Küche und aßen Lasagne und Schinkenbrote von Papptellern. Ein Fremder nach dem anderen kam auf sie zu und sagte verlegen, wie leid es ihm doch tat und was für ein guter Mensch Daniel gewesen sei.
Die Leute standen in kleinen Gruppen, tranken viel und lachten zwischendurch laut. Warum mussten die Iren eine Beerdigung immer zu einer Art Burschenschaftlerparty machen? Einige Stunden vergingen und Kathleen überlegte, wann sie sich aus dem Staub machen könne. Aus Erfahrung wusste sie, dass die Gäste die ganze Nacht bleiben würden.
Kathleen hatte auf der Arbeit einigen Jugendlichen über den Tod ihrer Eltern hinweggeholfen, und im Vergleich zum Schicksal anderer hatte sie viel Glück gehabt. Aber in diesem Augenblick war ihr das egal. Ihr war sehr wohl bewusst, dass sie sich wie ein Kind benahm. Und wenn schon. Ihr Vater war tot.
Als Ann Marie Nachtisch und Kaffee servierte, nahm sich Kathleen ein Éclair, setzte sich zu Ryan und ein paar anderen Kindern im Hobbyraum aufs Sofa und guckte mit ihnen Cartoons. Sie tat, als würde sie auf die Kinder aufpassen, aber in Wirklichkeit hätte sie es nicht einmal bemerkt, wenn sie ihr Haar in Brand gesetzt hätten.
Gerade lief der Abspann zu irgendeiner Sendung mit dem Namen Ren und Stimpy .
»Lust auf SpongeBob Schwammkopf ?«, fragte Ryan die anderen Kinder gastfreundlich. »Kommt jetzt als nächstes.«
»Ja!«, riefen sie.
Ein kleiner Junge wandte sich glücklich zu Kathleen und sagte: »SpongeBob wohnt in einer Ananas am Meeresgrund.« Wenn sie ihn richtig verstanden hatte, jedenfalls.
»Ach tatsächlich?«, antwortete sie.
Kathleen beneidete die Kinder. Sie hatten noch keine Ahnung von Verlust und waren nur hier, weil sie jemand mitgeschleppt hatte. Sie wussten wahrscheinlich nicht einmal, ob es eine Erstkommunion, ein Leichenschmaus oder die Ruhestandsfeier irgendeines alten Knackers war. Und es konnte ihnen ja auch egal sein.
Durch die Tür, die zum Esszimmer führte, sah sie Alice an der improvisierten Bar stehen. Ihre Mutter füllte ein Glas bis zum Rand mit Rotwein, führte es an die Lippen und trank es halbleer.
Kathleen schrak hoch. Sie hatte ihre Mutter seit ihrer Kindheit nicht trinken sehen, und nichts hätte sie mehr überrascht.
Sie stand auf, ging in den Flur und sah sich suchend nach Clare und Maggie um, konnte sie aber nicht entdecken. Dann ging sie auf Alice zu.
»Was machst du da, Mama?«
»Wonach sieht es denn aus? Ich trinke.«
Sie war schon nicht mehr nüchtern, und ihre Lippen und Zähne waren violett
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