Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Sache noch«, sagte er. »Deine Mutter ist in ihrem Leben durch die Hölle gegangen, Kathleen. Ich wollte ihr helfen, mit ihren Erlebnissen klarzukommen. Ich hatte nicht vor, noch eines hinzuzufügen. Jetzt bin ich mir nicht sicher, ob sie es alleine schafft. Das Gleiche gilt für dich, meine Süße. Für mich würde ein Traum in Erfüllung gehen, wenn ihr zwei euch gegenseitig helfen würdet.«
Es war typisch für ihren Vater, dass er sich sogar in dem Augenblick um Alice Sorgen machte, in dem er Kathleen sagte, dass er bald sterben würde. Sie versuchte, sich ein Leben ohne ihn vorzustellen und musste sich setzen.
Seit Kathleen denken konnte, hatte ihr Vater versucht ihr zu helfen, Alice zu verstehen. Er hatte ihr Geschichten von der Tante anvertraut, die Kathleen nie kennengelernt hatte, weil sie als junge Frau in einem Feuer umgekommen war, wofür Alice sich die Schuld gab. Er war ihr böse gewesen, als sie die Geschichte als Teenager in einem Streit mit ihrer Mutter gegen sie verwendet hatte, und Kathleen hatte sich deswegen schlecht gefühlt. Eigentlich fühlte sie sich deswegen auch jetzt noch schlecht. Aber sie hatte niemandem von der Sache erzählt, nicht einmal Maggie und Clare.
»Ich pass auf sie auf«, antwortete Kathleen mit schwacher Stimme. »Obwohl wir nicht mehr gemein haben als die Liebe für dich. Und das Alkoholproblem.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ihr werdet euch noch wundern.«
Dieser Kommentar machte ihr Angst. Sie sah sowieso schon zu viele Ähnlichkeiten zwischen Alice und sich: Wie klein sie sich manchmal fühlte, wie schnell sie andere verurteilte und schikanierte und wie oft sie einen Streit vom Zaun brach. (Wie viele Male hatte Kathleen so lange Druck auf Ann Marie ausgeübt, bis sie tat, was sie wollte? Und das Schlimmste war, dass sie darauf auch noch stolz gewesen war.) Es gab bestimmte Worte, die sie nicht sagen konnte, ohne genau wie ihre Mutter zu klingen. Selbst der erdige, fast saure Geruch ihrer Haut beim Aufwachen ähnelte dem ihrer Mutter, ganz egal, welche Seife sie benutzte oder wie viel Creme sie vor dem Schlafengehen auftrug. Und die Sauferei. Mehr Gemeinsamkeiten wollte sie gar nicht entdecken.
Nachdem er ihr von seiner Krankheit erzählt hatte, recherchierte Kathleen tagelang bis spät in die Nacht. Das ergab alles keinen Sinn. Wenn sie so etwas las wie »Ihre Bauchspeicheldrüse ist etwa fünfzehn Zentimeter lang und hat die Form einer auf der Seite liegenden Birne«, wurde sie wütend. Diese dämliche Birne, dieses nichtige Etwas, sollte ausreichen, ihren Vater zu töten, der ihr alles bedeutete? Das war unmöglich.
Ihr Esstisch, der normalerweise schon von Zeitschriften und Zeitungen, verwaisten Socken und leeren Weight-Watchers-Fertiggerichtepackungen überflutet war, war nun von Ausdrucken über Krebs und einem Dutzend Büchereibüchern über Naturheilkunde übersät.
Sie weinte, wenn sie mit Maggie telefonierte, die gerade nach New York gezogen war und sich ständig fragte, ob sie nicht zurückkommen sollte. Kathleen sagte, sie solle bleiben, wo sie war, obwohl sie insgeheim hoffte, Maggie würde trotzdem kommen. Und an den meisten Wochenenden kam sie auch und ließ – dem Universum sei Dank – den alten Kunsthändler, mit dem sie damals zusammen war, in New York zurück.
Kathleen sehnte sich mehr denn je nach Alkohol, und sie fragte sich, ob es Alice genauso ging. Der Effekt war ihr noch gut in Erinnerung: Das erste Glas Wein nahm jeder Tragödie die Schärfe, und mit dem zweiten wurden einem die Wangen warm und die Gedanken optimistischer. Aber sie wusste ja, dass es ihr nicht möglich war, nur ein oder zwei Gläser zu trinken, selbst wenn sie sich in der Vergangenheit das Gegenteil eingeredet hatte.
Ab sofort ging sie zweimal täglich zu den Anonymen.
Kathleen brachte ihrem Vater Tees und Kräuter von einem angesehenen Heilpraktiker in Chinatown. Auf seinem Nachttisch deponierte sie ein Glas mit glatten, grünen Runensteinen. Sie gab die Steine als Dekoration aus, aber in Wirklichkeit hatte Kathleen sie dort platziert, weil man früher geglaubt hatte, sie könnten die Toten zum Leben erwecken. Sie entzündete Chakra-Kerzen in seinem Zimmer, von denen man sagte, ihr Licht könne Spannungen lösen und die Vermehrung weißer Blutkörperchen anregen. Sie führte ihre allmorgendliche zweistündige Meditation fort, aber jetzt konzentrierte sie sich nicht auf sich selbst, sondern auf die Organe ihres Vaters, versuchte, mit dem Krebs zu
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