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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. Courtney Sullivan
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betreten? Ich soll mich abends neben ihn ins Bett legen und einfach sagen: ›Gute Nacht, Schatz. Hoffentlich lebst du noch, wenn ich aufwache.‹«
    »Ich weiß, dass es schwer ist«, sagte Kathleen.
    »Du steckst dahinter«, sagte Alice erhitzt. »Du und deine dämlichen Kräuter. Du hast ihm eingeredet, dass er sonst nichts braucht.«
    »Das ist nicht wahr!«, sagte Kathleen und wurde sauer. »Du suchst jetzt einen Schuldigen, aber es kann ja niemand etwas dafür. Und ich lasse nicht zu, dass du mich mit dieser negativen Energie bombardierst, wenn wir uns doch gemeinsam darauf konzentrieren müssen, ihm Kraft zu geben.«
    »Energie! Konzentration! Der Mann braucht Medikamente, Kathleen. Er braucht einen Arzt. Wenn du nicht wenigstens versuchst, mit ihm über eine Therapie zu sprechen, werde ich dir das nie verzeihen.«
    Kathleen tat, als sei ihr das egal und zuckte mit den Schultern. Es war der ganz normale Alice-Wahnsinn, und in ein paar Tagen hätte ihre Mutter die Drohung schon wieder vergessen.
    Aber nachdem Alice gegangen war, kamen Kathleen die Tränen.
    Als sie am Nachmittag zu ihren Eltern hinüberfuhr und das Schlafzimmer betrat, schlief ihr Vater gerade. Alles, was sie ihm in den letzten Wochen gebracht hatte – die Runensteine, die Vitamine, die Kerzen und der Tee – war verschwunden.
    Sein Zustand verschlechterte sich schnell. Seine Haut nahm eine ungesunde gelbe Farbe an, und schließlich geschah dasselbe mit dem Weiß, das das Blau seiner Augen rahmte. Ihm war ununterbrochen übel und er konnte nichts bei sich behalten. Sie mussten hilflos zusehen, wie er dahinschwand. Daniel war ein fröhlicher Mensch gewesen, aber jetzt erlebte Kathleen ihn zum allerersten Mal traurig. Sie sehnten sich nach seinem Lachen, vermutlich mehr ihrer selbst willen als zu seinem Wohl. Ihn bedrückt zu sehen war so ungewohnt, dass es einem den Magen umdrehte, wie der Anblick eines nach einem Unfall aus dem Fleisch ragenden Knochens.
    Die Familie rückte näher um ihn zusammen, und jeder tat, was er nur konnte. Sie schauten bis zum Erbrechen Dick & Doof und Jackie Gleason, Clares Sohn Ryan sang Daniels liebste Dean-Martin-Klassiker, Maggie schickte Bücher mit irischen Rätseln und Witzen, Ann Marie kochte mehr Suppe, als ein normaler Mensch im ganzen Leben konsumiert, und kümmerte sich liebevoll um Alice, brachte ihr Geschenke und ging mit ihr alle paar Wochen essen.
    Er war nie allein. An fünf bis sechs Abenden in der Woche kamen alle bei Alice und Daniel, im Haus ihrer Kindheit, zum Abendessen zusammen. Sie saßen an seinem Bett, holten die Maine-Fotobände vom Regal – beim Blättern sagte er eines Abends traurig: »Ich werde Maine nicht wiedersehen« – und sie lachten über jeden seiner Witze. Sie unterbrachen ihn nicht mehr bei seinen komplizierten Geschichten, die sie früher mit den Worten »Komm mal zum Ende, Papa, wir haben nicht den ganzen Tag!« abgebrochen hätten.
    Kathleen saugte jeden Augenblick wie ein Schwamm in sich auf und wünschte sich oft, mit ihm alleine sein zu können. Für sie war das die schlimmste Phase der Trauer: Wenn der Mensch, den man liebt, noch neben einem sitzt, man aber schon weiß, dass er nicht mehr lange da sein wird.
    Am Ende wog er nur noch vierundvierzig Kilo.
    Er erlebte Thanksgiving und Weihnachten, aber dann war schnell klar, dass nicht mehr viel Zeit blieb. Kurz nach Neujahr sah Kathleen vom Küchenfenster aus den fallenden Schneeflocken zu, als das Telefon klingelte. Daniel war tot.
    Patrick und Ann Marie standen wie immer schon in den Startlöchern und nahmen sofort alles in die Hand. Ann Marie fuhr Alice, die gar nicht wusste, wie ihr geschah, zum Bestattungsinstitut, um einen Sarg auszuwählen und telefonierte mit einem Cateringservice; Patrick nahm wegen des Testaments mit dem Notar Kontakt auf. Und zwar noch am Todestag. Kathleen widerte der Gedanke bis heute an: Wer tat denn so etwas?
    Dann rief Patrick mit der Nachricht an, dass Daniel abgesehen von dem Haus in Canton, dem Anwesen in Maine, seiner Rente und ein paar Ersparnissen für Alice alles ihr vermacht hatte.
    »Er hatte dreihunderttausend Dollar. Alles deins«, sagte Pat. »Clare und Joe kriegen das Auto, ich Großvaters Uhr und Papas alte PINGs.«
    »PINGs?«
    »Golfschläger. Es ist eine Menge Geld, Kath. Du und Papa seid doch tatsächlich noch über seinen Tod hinaus miteinander verschworen«, sagte er, als wäre das alles abgemacht gewesen. In Wirklichkeit hatte ihr Vater nie mit ihr über Geld

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