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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. Courtney Sullivan
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verfärbt. Wie viel hatte sie getrunken? Kathleen wollte losrennen, um ihren Vater zu holen.
    »Vielleicht bringen wir dich besser ins Bett«, sagte sie.
    »Ins Bett? Es ist sechs Uhr. Ich bin keine schwächliche Alte, Kathleen.«
    Am Tisch blickten ein paar Leute auf und schauten zu ihnen herüber.
    Kathleen sagte mit gedämpfter Stimme: »Das habe ich auch nicht gesagt, ich –«
    »Was? Du hast ihn umgebracht und jetzt willst du mich auch loswerden. Ist es nicht so?«
    Kathleen trat einen Schritt zurück.
    »Es reicht dir nicht, fast das ganze Erbe zu haben. Du willst es alles«, sagte Alice, und Kathleen musste sich zusammenreißen, um sie nicht zu ohrfeigen.
    Stattdessen drehte sie sich um und drängte sich durch die Menge, bis die Maggie und Christopher fand. Sie packte die beiden am Hemdskragen, als wären sie kleine Kinder, die ohne zu gucken über die Straßen rennen wollten, zerrte sie Richtung Tür und raus zum Auto. Erst dann sprach sie.
    »Ich rede nie wieder mit dieser Frau«, sagte sie.
    »Was hat das Miststück sich wieder erlaubt?«, fragte Christopher.
    Unter anderen Umständen hätte Kathleen sich wegen seiner Ausdrucksweise Sorgen gemacht und ihn vielleicht sogar zurechtgewiesen, aber jetzt war sie irgendwie dankbar.
    Am nächsten Tag rief Alice mehrmals an und hinterließ Nachrichten, derer zufolge man hätte denken können, es wäre keine Beerdigung, sondern die Hochzeit einer entfernten Cousine gewesen: »Hast du Mary Clancys missratenes Facelifting gesehen? Ruf mich an, dann können wir tratschen«, sagte sie. Oder: »Hattest du nicht auch den Eindruck, dass Ann Maries gefüllte Eier verdorben waren?« Bei diesem Kommentar war Kathleen endgültig klar, dass Alice sehr wohl wusste, dass sie sich daneben benommen hatte, aber was geschehen war, erwähnte ihre Mutter nie wieder.
    Kathleen sprach zehn Monate lang kein Wort mit Alice, bis es schließlich zu einem Waffenstillstand kam. Ob sie es wollten oder nicht: Zu Ann Maries Thanksgiving-Essen mussten sie an einem Tisch sitzen.
    Aber verziehen hatte sie Alice bis heute nicht.
    Wenige Monate nach der Szene bei der Beerdigung ihres Vaters lernte Kathleen Arlo kennen. Die Farm in Kalifornien war sein größter Traum, und innerhalb weniger Wochen überlegten sie gemeinsam, wie der Plan umgesetzt werden konnte. Kathleen wusste schon länger, dass es Zeit war, Massachusetts zu verlassen, wo die Geister der Vergangenheit sie verfolgten. Maggie wohnte in New York und Chris war am Trinity College. In Boston hielt sie nichts mehr. Die Kellehers hielten sie natürlich für verrückt: Mit Papas Geld eine Farm für Wurmscheiße eröffnen war doch die ideale Pointe für einen Kathleen-Witz: Was für einen Quatsch denkt sie sich als nächstes aus?
    Als sie umzogen, kannten Arlo und sie sich gerade ein halbes Jahr. Im Rückblick bewunderte Kathleen ihre eigene Risikobereitschaft. Aber jeder Grund, aus Massachusetts zu verschwinden, war willkommen. Arlo war nie verheiratet gewesen. Er war sieben Jahre lang mit einer Frau namens Flora zusammen gewesen, die auch jetzt noch ab und zu anrief, um sich nach ihm zu erkundigen. So war es eben zwischen Arlo und Flora. Kathleen war anders, aber sie versuchte, es ohne Eifersucht hinzunehmen. Einmal hatte sie mit Flora und Arlo sogar bei Kerzenschein in einem kleinen Restaurant am Berghang zu Abend gegessen und beinahe gerne zugehört, als Flora ihnen von ihrem Töpferatelier in Portland erzählte, von ihren wechselnden Freunden, ausnahmslos Deadheads (»Mit anderen läuft’s bei mir einfach nicht, daran hat sich bis heute nichts geändert.«), und von ihrer Zeit mit Arlo (»Wir hielten uns damals für seelenverwandt, weil unsere Namen fast Anagramme sind.«). Aber es lohnte sich für Kathleen schon deshalb mitzukommen, um zu hören, wie Arlo sein Leben mit Kathleen beschrieb. Es klang nach einem friedlichen und zufrieden Leben, und das war es auch.
    Es war ihr in erster Linie darum gegangen, von den Kellehers wegzukommen, das war ganz klar. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie Abstand zu ihrer chaotischen Familie und musste nicht mehr Teil davon sein. Andererseits konnte sie jetzt, auch wenn sie es wollte, kein Teil mehr davon sein. Sie hörte von ihren Kindern, von Clare und jetzt, da sie das Kriegsbeil begraben hatten, auch von Alice den neuesten Familientratsch und verrückte Geschichten über Streitigkeiten und Missverständnisse, und stellte ab und zu überrascht fest, dass sie das alles ein bisschen vermisste.
    Und

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