Sommer in Maine: Roman (German Edition)
spielten Basketball, schrieben gerne Geschichten und jagten Jungs hinterher. Als sie noch klein waren, hatte jede die Hälfte eines herzförmigen Freundschaftskettenanhängers getragen. Damals hatten sie fast jeden Nachmittag miteinander verbracht, Musik gehört und heimlich Fertigkeksteig direkt aus der Packung gegessen.
Jetzt hörten sie nur noch selten voneinander. Patty führte ihr Erwachsenenleben: Ehemann, drei Kinder, Eigenheim in der Vorstadt. Man hatte die beiden immer miteinander verglichen. Jetzt maß Maggie sich an ihr.
Der letzte im Bunde war Maggies Cousin Ryan: Ein junges Musicaltalent, das nach ihrer Rückkehr aus Maine für ein paar Tage wegen eines Vorsingens bei der New York University bei ihr wohnen würde. Maggie war von Ryan begeistert. Als er vier oder fünf Jahre alt war, hatte sie ihn einmal ins Kino mitgenommen. Der Vorspann war noch nicht zu Ende, und er musste schon aufs Klo. Maggie wollte ihn nicht alleine auf die Männertoilette gehen lassen, aber Ryan sagte, dass er das schon oft gemacht habe. Außerdem sei die Toilette für eine Person ausgelegt, es war also nicht so, dass ihn irgendein Perverser erwischen könne. Aber sie blieb vorsichtshalber in der Nähe und passte auf. Es dauerte keine Minute, da hörte sie ihn singen, zuerst leise, dann immer lauter: Off we’re gonna shuffle, shuffle off to Buffalo! Maggie klopfte an die Tür. Die Leute, die vorbeikamen, kicherten und glotzten. Dann drehte sie am Türknauf, aber Ryan hatte abgeschlossen. Es sammelten sich immer mehr Schaulustige vor der Toilette. Eine Viertelstunde später kam der Junge dann zum Vorschein: »Da drinnen hängt ein riesiger Spiegel!«, rief er freudestrahlend.
Verglichen mit den anderen Jungs in der Familie war ihr Bruder Chris ein Unglück. Er hatte noch immer keinen ordentlichen Job. Momentan arbeitete er als Marketingvertreter im Außendienst, was nichts weiter hieß, als dass er vor dem Eingang des Studentenwerks der Boston University Flyer für neue Fast-Food-Restaurants und Produktproben an Studenten verteilte. Er hatte beängstigende Stimmungsschwankungen. Wenn er sich daneben benahm, gab Kathleen sofort den Onkeln Joe und Pat die Schuld. Warum waren sie nicht öfter da gewesen, um dem Jungen ein männliches Vorbild zu geben? Maggie erinnerte Kathleen dann daran, dass die Onkel selbst Söhne hatten und dass Chris ja nicht vaterlos war. Aber vielleicht war da doch was dran.
Maggie erinnerte sich an ein altes Foto der sechs Enkelkinder am Strand, das bei ihren Großeltern in Canton auf dem Klavier stand. Maggie hatte Rhiannon gesagt, dass sie sich nahestanden, und so sah sie ihre Beziehung zu ihren Cousins und Cousinen auch. Aber in Wirklichkeit war es nicht mehr wie früher.
Als sie das WILLKOMMEN IN MAINE Schild sah, fühlte sie sich, als sei sie nach Hause gekommen. Sie hielten beim Supermarkt an der Route 1 und machten den Einkauf. Mitte der Neunziger hatten sie den Laden umbenannt, aber für die Kellehers blieb es der Shop ’N Save. Durch die vertrauten Gänge zu gehen, gab Maggie zugleich ein Gefühl der Sicherheit und der Einsamkeit.
Auf dem Weg zum Haus wies sie Rhiannon auf die wichtigsten Gebäude hin: Die Fischbude, die alte Apotheke und Die Veranda , wo spätabends männliche Judy-Garland-Imitatoren für die Turis ihr Bestes gaben.
Sie fuhren an Rubys Gemischtwaren vorbei und Maggie erinnerte sich, wie schön es im letzten Sommer gewesen war, mit Gabe da hineinzugehen. Sie hatten das Ehepaar, dem der Laden gehörte, dabei belauscht, wie sie sich über ihre undankbaren Enkel beschwerten, die in die Großstadt davongezogen und sie alleine gelassen hatten. (Mit der Großstadt meinten sie das dreißig Kilometer entfernte Portland.)
Bald erreichten sie die Weggabelung, an der neben einer kleeblattähnlichen Form die Initialen A.H. in einen Baumstamm geritzt waren. Maggie bat Rhiannon, links einzubiegen.
»Echt?«, fragte Rhiannon skeptisch, wie alle, die zum ersten Mal herkamen. Von hier sah es tatsächlich wie ein Pfad in den Wald aus. Dann bogen sie in die Briarwood Road ein, die Wagenreifen wirbelten Sand auf, und es wirkte, als hinge ein feiner Nebel zwischen den Pinien.
»Es ist wunderschön«, sagte Rhiannon.
Wenige Augenblicke später sah man das alte Sommerhaus durch die Bäume. Maggies Herz schlug schneller beim Anblick seiner verwitterten Holzschindeln, der neben der Eingangstür gestapelten Sonnenliegen und dem Ozean im Hintergrund.
Alices Auto war nicht da, aber während sie
Weitere Kostenlose Bücher