Sommer in Maine: Roman (German Edition)
sie Sandkörner. Im Schlafzimmer sah sie die leeren Schubladen und das mit einem Muschelmuster bedruckte Papier, das darin ausgelegt war. Der Anblick versetzte ihr einen Stoß in den Magen. Sie ging zum Wandschrank, in dem der übergroße, rosafarbene Bademantel hängen müsste, den Ann Marie vor ein paar Jahren dagelassen hatte, und ein Stapel Decken, die ihre Urgroßmutter gestrickt hatte. Aber auch der Schrank war leer.
Dann erinnerte Maggie sich an den grünen Pullover ihres Großvaters, den er ihr auf einem frühmorgendlichen Spaziergang zu Rubys Gemischtwarenladen gegeben hatte, als sie zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Es war ihr unendlich peinlich gewesen, in dem Pullover die ganze Briarwood Road entlang zu spazieren, und sobald sie wieder am Haus angekommen waren, hatte sie ihn in die Kommode gestopft. Aber seit seinem Tod war es ihr zur Tradition geworden, ihn jeden Sommer bei der Ankunft hervorzuholen und morgens beim Kaffeetrinken zu tragen. Der Gedanke, dass jemand anderes – einer ihrer Cousins oder, schlimmer noch, ein Freund eines Cousins – den Pullover genommen haben könnte, trieb ihr wirklich Tränen in die Augen.
»Wir haben im Schlafzimmer einen Pullover für Rhiannon gesucht, und da haben wir gesehen, dass die Schubladen alle leer sind«, sagte sie zu Alice, kurz nachdem sie bei ihr zum Abendessen erschienen waren.
Sie standen zu dritt in der Küche und warteten darauf, dass der Braten abkühlte. Keiner wusste, was er sagen sollte. Der mit Alufolie abgedeckte Kartoffelsalat erwartete in einer kondenswasserfeuchten Schüssel sein Schicksal. Maggie hoffte, dass er nicht seit dem letzten Sommer im Tiefkühlfach gegammelt hatte. Bei Alice konnte man nie wissen.
»Ich kann dir meine Strickjacke leihen, aber die wird dir ein bisschen eng sein«, sagte Alice.
»Nein, danke. Ich wollte nur wissen – naja, also wo sind denn die ganzen Sachen hin?«
»Ich habe ziemlich viel rausgeschmissen«, sagte Alice. »Das kleine Haus war im Lauf der Jahre ganz schön zugemüllt.«
»Weißt du noch, ob ein grüner Pullover von Großvater dabei war?«
»Herzchen, ich weiß ja nicht einmal mehr, was ich heute zum Frühstück gegessen habe«, sagte Alice zuckersüß. »Ich habe eben ein paar Sachen aussortiert, drüben, aber auch hier bei mir.«
»Okay«, sagte Maggie. »Aber sollte dir dieser Pulli nochmal in die Finger kommen –«
»Jetzt essen wir aber«, unterbrach Alice. »Vielleicht draußen auf der Veranda?«
Der Tisch auf der Veranda war schon gedeckt, also trugen sie die Speisen durch die Fliegengittertür hinaus und setzten sich. Außer dem Braten und dem Kartoffelsalat gab es einen Teller in Scheiben geschnittener und mit Salz und frisch gemahlenem Pfeffer angemachter, leuchtend roter Tomaten aus Rubys Laden. Alice hatte außerdem Bananenscheibchen und ein dutzend Heidelbeeren in einer Teetasse hingestellt. Daran konnte man erkennen, dass Alice nicht mehr die Jüngste war, was Maggie zu ihrer eigenen Überraschung ein wenig traurig machte.
Rhiannon legte sich die Serviette auf den Schoß und saß besonders gerade. Also hatte Alice sie doch eingeschüchtert.
»Bitte, greifen Sie doch zu«, sagte Alice. »Bedienen Sie sich, Sie sind doch unter Freunden.«
Rhiannon tat sich ein paar Kartoffeln auf, nahm einige Heidelbeeren und Tomatenscheiben und schnitt sich ein großes Bratenstück ab – ein gutes Viertel des Bratens. In den Augen einer normalen Person war es eine vernünftige Menge, aber Maggie wusste, dass Alice wahrscheinlich entsetzt war. Sie schnitt sich aus Solidarität ein ebenso großes Stück ab und vermied Blickkontakt mit ihrer Großmutter.
Alice nahm einen Schluck Wein, stellte das Glas langsam ab und schnitt erst dann eine hauchdünne Scheibe runter.
»Eigentlich hatte ich gedacht, dass es für zwei Abendessen reichen würde, aber c’est la vie«, sagte sie. »Habt ihr zwei heute noch gar nichts gegessen?«
»Eigentlich haben wir seit der Abreise heute früh nichts anderes getan«, sagte Rhiannon.
Alice nickte energisch.
»Meine Güte, Shannon, Sie essen ja wie ein Scheunendrescher.«
»Rhiannon, Oma«, sagte Maggie.
Alice ignorierte sie.
»Woher kennen Sie Maggie überhaupt?«, fragte sie mit demselben falschen Lächeln, das sie schon zuvor am Auto aufgesetzt hatte.
»Wir sind Nachbarn«, sagte Rhiannon.
»Ach, verstehe. Und woher stammen Sie, meine Gute? Sie haben einen ganz bezaubernden Akzent. Man könnte meinen beinahe irisch.«
»Ich komme aus Schottland«,
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