Sommer in Maine: Roman (German Edition)
sah, wie Ann Marie sich die Bluse aufknöpfte, den Oberkörper aus dem Autofenster streckte und so laut es ging »Hey Jude« sang, obwohl man bei dem Gebrüll den Text kaum verstehen konnte: »Na-na-na-nananana!!!« .
Pat saß mit so um die zehn Bier intus am Steuer.
»Park deinen Knackarsch wieder auf dem Sitz«, sagte er und zog an der Hosentasche seiner Freundin.
»No-no-no-nononono!!!« , schrie Ann Marie. Wenige Minuten später rutschte sie wieder auf den Beifahrersitz, beugte sich in Rock und BH zu Patrick rüber und leckte sein Ohr, als wäre Kathleen gar nicht da. Am nächsten Morgen sagte Ann Marie kleinlaut: »Hoffentlich habe ich gestern nichts Unanständiges gemacht. Ich erinnere mich an nichts. Möchte jemand Eierkuchen?«
Den Abend würde Kathleen nie vergessen. Sie wünschte nur, dass sie ein Foto gemacht hätte. In ihren Träumen schickte sie es ohne Absender oder Kommentar an Alice.
Schon im College waren Patrick und Ann Marie in Gegenwart der Dozenten ganz die Englein, und das hatte Kathleen schon damals wahnsinnig gemacht. Sobald sie geheiratet hatten, machte Patrick Ernst, und sie lebten fortan in häuslichem Idyll. Als die Kinder noch klein waren, hatte Ann Marie es in Cape Neddick einmal mit dem Rumpunsch ein bisschen übertrieben und Kathleen voll Stolz anvertraut, dass Pat der erste und einzige Mann war, mit dem sie geschlafen hatte. Als wären Frauen, die sich ihre Jungfräulichkeit bewahren, besser als die anderen. Als gäbe es Punkte zu sammeln.
Zur Begrüßung sagte Ann Marie mittlerweile: »Bei dir ist alles gut?«, als würde sie einen zur richtigen Antwort lenken wollen: Bloß nichts Negatives, bitte. Das wäre doch geschmacklos. Wenn Ann Marie nur mal eine Schwäche zeigen würde, ein Zeichen davon, dass sie menschlich war, wäre Kathleen vielleicht nicht so unnachgiebig. Aber nach über dreißig Jahren war das unwahrscheinlich.
Ann Marie missbrauchte Maine als Statussymbol, um damit ihre drögen Bekannten im Country Club zu beeindrucken. Aus keinem anderen Grund hatten sie Daniel und Alice den protzigen Neubau neben das Sommerhaus geklotzt. Ann Marie hatte bestimmt schon einen Ordner mit Informationen zu den einzelnen Möbelstücken angelegt, die angeschafft werden sollten, sobald Alice abgekratzt war.
Sie redete meistens in Zahlen: Menge, Entfernung, Temperatur, Preis. Sie hatte wohl nichts Interessanteres zu berichten, als dass schon im April dreiundzwanzig Grad waren, ihre Mutter dies Jahr einundachtzig wurde und es einfach unerhört war, für rote Paprika vier Dollar das Pfund zu verlangen.
Vor ihren Kindern spielte Ann Marie die Heilige – ohne sexuelle Bedürfnisse und frei von Schuld. Und was war schon dabei, dass sie heimlich eine Flasche Weißwein leerte, um durch einen stressigen Tag zu kommen? Wenn sie abends ausgehen wollte, kochte sie vor, sodass für Pat auch an diesen Tagen wie an allen anderen ein aufwändiges Abendessen auf den Tisch kam. Als könne er den Herd nicht bedienen. Sie besuchte Kurse zur Herstellung von Blumengestecken und für kreative Kuchendekoration.
Kathleen machte sich Sorgen um Ann Maries älteste Tochter, Patty. Es tat ihr leid zu sehen, wie verzweifelt das arme Mädchen versuchte, es Ann Marie als Mutter und Ehefrau gleichzutun und sich vermutlich fragte, wie zum Teufel sie das schaffen sollte. Kathleen hatte oft überlegt Patty zu verraten, dass die meisten Leute ihre Mutter für verrückt hielten. Als Patty klein war, hätte Kathleen sie gerne aus ihrer beklemmenden Umgebung befreit, aber mittlerweile hatte Patty sich für den Weg so vieler junger Frauen entschieden und versuchte, alles unter einen Hut zu bringen: Mit dreißig war sie Anwältin und Mutter dreier Kinder.
Ihr Bruder und ihre Schwägerin waren Großeltern! Daran wollte Kathleen gar nicht denken, denn schließlich bedeutete das, dass auch sie schon Großtante war. Bei der Vorstellung, auch ihre Kinder könnten Eltern werden, schlug ihr Herz schneller, allerdings keineswegs im positiven Sinne.
Die anderen mochten Ann Marie für noch so mütterlich halten: Kathleen gefiel es nicht, wie ihre Schwägerin mit Kindern umging. Nach der Schule buk sie mit den Kleinen Kekse, ging mit ihnen Eislaufen, nähte Kleidchen für ihre Puppen und stellte alle anderen Mütter in den Schatten. (Manche Mütter waren wie dafür geschaffen, anderen das Gefühl zu geben, sie seien Rabenmütter.) Gleichzeitig kontrollierte sie ihre Kinder aber auf Schritt und Tritt, schrieb ihnen vor, wie sie
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