Sommer in Maine: Roman (German Edition)
sich zu kleiden hatten, was sie in ihrer Freizeit machten, mit wem sie ausgingen und mit wem nicht. Weil sie den Schmutz von Haustieren nicht ertrug, erlaubte sie nicht einmal einen Goldfisch, obwohl die Kinder sie um einen Hund anflehten. Fiona, die Jüngste, wollte in der Schulband Tuba spielen. Ann Marie setzte durch, dass es die Piccolo wurde.
Was wohl aus Ann Maries Kindern geworden wäre, wenn sie ihnen erlaubt hätte, sich frei zu entfalten?
Kathleen erinnerte sich an einen Nachmittag, als Chris noch klein war, höchstens fünf. Sie hatte ihn zu Ann Marie gebracht, um mit Maggie zum Arzt zu gehen. Als sie ihn abholte, lag ihr Sohn zusammengerollt im Flur und weinte.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie, woraufhin Chris jene ihr unvergesslichen Worte sagte: »Tante Ann Marie hat mich gehauen.«
Kathleen explodierte. Sie marschierte in die Küche, wo Ann Marie gerade die Arbeitsfläche schrubbte.
»Du hast mein Kind geschlagen?«, schrie sie und erschreckte den auf dem Boden mit seinen Autos spielenden Daniel Junior.
Ann Marie lächelte und sagte, als wäre es eine Rechtfertigung: »Er hat nicht gehört. Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass er sich brav hinsetzen soll, aber er hat sich einfach nicht beruhigt. Dann hat er Daniel Junior mit einem Traktor gehauen, und zwar ziemlich heftig. Die Beule wird noch ein paar Tage sichtbar sein.«
Kathleen wurde noch lauter: »Und dann hast du ihn geschlagen, damit er lernt, dass man andere nicht haut?«
»Ich habe ihn doch nicht geschlagen «, sagte Ann Marie leise. »Ich habe ihm mit der flachen Hand auf den Po gehauen. Es tut mir leid.«
Kathleen wusste, dass Ann Marie Auseinandersetzungen nicht vertrug. Ihre Augen wurden schon feucht. Gut so.
»Lass dir eins gesagt sein«, sagte Kathleen. »Ob mit der flachen Hand oder der Faust: Du wirst keines meiner Kinder jemals wieder anfassen. Egal, was sie anstellen. Ist das klar? Wenn du es doch tust, geh ich zum Jugendamt.«
Am selben Abend rief ihre Schwester Clare an: »Du willst Ann Marie anzeigen?«, sagte sie. »Sie stellt schon ein Potpourri für ihre Zelle zusammen.«
»Von wem weißt du das?«, fragte Kathleen. »Ach, lass mich raten.«
»Ganz genau. Unsere Mutter hat gesagt, dass ich dir sagen soll, dass du dich entschuldigen musst.«
»Entschuldigen!«
»Dass du auch immer gleich überkochen musst, sagt sie. Woher du das wohl hättest. Du wüsstest Ann Marie nicht zu schätzen. Einen besseren Babysitter fändest du nirgendwo. Du brächtest die Kleinen ständig zu ihr, dabei sei sie doch keine Kinderfrau, sondern die Tante. Ach, und außerdem meint Alice, dass Kinder ab und zu einen kleinen Klaps bräuchten. Das täte ihnen gut.«
»Na, wenn das die Mutter des Jahres sagt.«
»Keine Ahnung, was ich mit dem Ganzen zu tun habe.«
»Warum zum Teufel rennt Ann Marie immer gleich zu Mama?«
»Weil sie die Tochter ist, die Alice nie hatte.«
Kathleen verzieh Ann Marie, oder zumindest erwähnte sie den Vorfall nie wieder. Früher waren sie ein Vierergespann gewesen: Patrick und Ann Marie, Kathleen und ihr Mann Paul. Sie gingen zu Freiluftkonzerten zum Hatch Shell, fuhren gemeinsam nach Maine, gingen mit den Kindern zum Rummel in Marshfield und aßen bei Legal Sea Foods zu Abend. Und so ungern sie es auch zugab: Es stimmte, dass Ann Marie ihre Kinder oft hütete, zwei bis dreimal die Woche, und sie nie um eine Gegenleistung gebeten hatte. (Fürs Babysitten hatte Ann Marie ihre beiden Schwestern, und außerdem hatte sie keinen Job.) Kathleen mochte Ann Marie nicht für besonders interessant oder intelligent halten, aber sie gehörte zur Familie. Es war unmöglich, den Kontakt lange zu verweigern.
Ein paar Jahre später rechtfertigte Patrick mit dieser früheren Nähe, dass er Pauls Affäre gedeckt hatte.
Ein Jahr lang hatten ihr Mann und ihr Bruder Kathleen vorgetäuscht, dass sie sich zweimal pro Woche trafen. Dienstags zum Poker, freitags zum Treffen des Kiwanis Wohltätigkeitsclubs. Paul verschwand auch an anderen Abenden ohne Erklärung und kam oft erst nach Mitternacht nach Hause. Kathleen spürte, dass etwas nicht stimmte, aber unterdrückte das Gefühl. Einerseits wollte sie die Wahrheit wissen, andererseits sie verdrängen.
Nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht und eine halbe Flasche Rotwein gekippt hatte, rief sie Ann Marie eines Freitagabends am, um zu fragen, ob sie und Pat am nächsten Tag zum Grillabend bei Daniel und Alice kommen würden.
Ann Maries Stimme entfernte sich vom Hörer,
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