Sommer in Maine: Roman (German Edition)
gerührt oder jemandem außerhalb des engsten Familienkreises geholfen. Patrick sah sich nicht als Teil eines Ganzen. Er war das Ganze.
»Was soll das denn bitte heißen?«, sagte er in einem fast fröhlichen Ton, und sie fragte sich, ob er in Gesellschaft seiner stinkreichen Yuppiefreunde war, vielleicht auf einer Cocktailparty oder beim Golfen.
Das Gelassenheitsgebet ging ihr durch den Kopf: Gott gebe mir die Gelassenheit hinzunehmen, was ich nicht ändern kann, den Mut zu ändern, was ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Warum schaffte sie das bei den Treffen mit den Anonymen vor lauter Fremden, aber nicht mit der eigenen Familie? Sie hatte sich verschiedene Techniken im Umgang mit allen möglichen Leuten in den unterschiedlichsten Situationen angeeignet, aber die Kellehers machten sie nach wie vor rasend und brachten ihre schwärzeste Seite hervor.
»Was habe ich mir nur dabei gedacht«, konnte sie nicht lassen, zu sagen, »eine Entscheidung unseres Heilands und Erretters in Frage zu stellen? Bitte verzeih mir!«
Dann legte sie auf. Plötzlich spürte sie ein starkes körperliches Bedürfnis und erkannte es als die Lust auf etwas Hochprozentiges. Sie ließ das Gefühl zu und beobachtete, in welchem Teil ihres Körpers es am stärksten war: Mitten in der Brust.
Ärger und Verbitterung hatten sich jahrelang in ihr angestaut, sodass die Arroganz ihres Bruders Kathleen sofort daran erinnerte, dass ihre Eltern ihn auf eine teure katholische Jungenschule geschickt hatten, während Clare und sie zur staatlichen Schule gegangen waren. Alice hatte sich verrenkt, um Patrick immer wieder zu versichern, wie talentiert und intelligent er sei, aber für ihre Töchter hatte sie keine guten Worte übriggehabt.
Alice kam aus armen Verhältnissen, und obwohl sie ihre Kinder in der Mittelschicht großgezogen hatte, sollte allen stets klar sein, dass ihr eigentlich Höheres bestimmt gewesen war. Den anderen nicht unbedingt. Nur ihr. Sie spielte sich auf, und ihre Eitelkeit war lächerlich. Sie sah sich selbst als Frau von Welt, zu einer Existenz verdammt, die ihr nicht entsprach. Dabei war sie ein ganz normales Bostoner Vorstadtmädchen aus einer irischen Arbeiterfamilie, das nichts vom Leben wusste.
Kathleen scherzte oft mit ihrer Schwester Clare darüber, dass ihre Mutter Pats Frau deshalb mehr liebte als sie beide zusammen, weil Ann Marie genauso eine Schaumschlägerin war wie Alice.
Ihre Schwägerin war schon an der Uni schamlos brav gewesen. Bevor Pat sie kennenlernte, hatte er eine ziemlich wilde Phase durchlebt. Er rauchte Gras und stieg in St. Mary von einem Bett ins nächste. Ann Marie, prädestiniert für die Rolle der makellosen, tugendhaften Mutter und Hausfrau, stutzte ihn bald zurecht. Pat spielte in der College-Golfmannschaft, und Ann Marie organisierte tatsächlich einen Kuchenverkauf, um Geld für einheitliche Trikots zu sammeln. Diese widerliche Geschichte breitete Pat stolz vor der Familie aus, als er zu Weihnachten nach Hause kam, woraufhin Alice die Hand aufs Herz legte und sagte: »Was für ein engelsgleiches Wesen.«
Ann Marie kam aus einem Stadtteil im Süden Bostons, den Alice »die schlechte Seite der Gleise« nannte. Aber wie Alice drehte sie sich die Wahrheit zurecht, und wenn man fragte, wo sie aufgewachsen sei, antwortete sie: »Auf der Strecke nach Milton«. Dabei gab es gar keine Verbindung zwischen Süd Boston und dem wohlhabenden Milton. Als sie sich kennenlernten, hatte Patrick gerade mit der Polizei zu tun und war untergetaucht. Er war eine kleine Nummer in der Winter Hill Gang und hatte alles Mögliche mitgemacht: Drogenhandel, Waffenschieberei mit der IRA, und vielleicht hatte er sogar etwas mit dem Mord an einem Oklahoma Geschäftsmann in den Siebzigern zu tun. Das alles hatte Kathleen von Patrick selbst gehört, denn Ann Marie wollte derartig Unerhörtes natürlich nicht wahrhaben.
Ihre Schwägerin wollte unbedingt als die Tugend in Person gelten, obwohl sie sich unter der Oberfläche in nichts von den anderen unterschied. Kathleen hatte nur ein einziges Mal erlebt, dass Ann Marie sich gehen ließ. Damals hatte sie Pat und Ann Marie kurz nach deren Bachelor-Abschluss in South Bend besucht. Pat vertrieb sich die Zeit bis zum Beginn seines Betriebswirtschaftsstudiums, und Ann Marie kellnerte und machte viel Lärm um ein eventuelles Studium der Pflegepädagogik, das sie dann doch nie anfing. Eines Abends saß Kathleen betrunken auf dem Rücksitz und
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