Sommer in Maine: Roman (German Edition)
Hause zu bleiben und anzusetzen.«
»Ich wohne in Kalifornien«, hatte Kathleen gesagt.
»Ach so? Da gibt es also keinen Winter?«
»Eigentlich nicht.«
»Na egal. Hauptsache, du bewegst dich.«
Es war eine Art Fluch, eine schöne Mutter zu haben, wenn man selbst durchschnittlich aussah. Als Kathleen, Pat und Clare klein waren, galt Alice in der Nachbarschaft als verschroben, weil sie morgens in Tenniskleid und Sommermantel um den Block rannte. Zwanzig Jahre später nannte man das Jogging. Bis heute kontrollierte Alice ihr Gewicht streng und erinnerte ihre Tochter regelmäßig an die vierzehn Kilo, die Kathleen nach den Geburten ihrer Kinder nicht mehr losgeworden war. Seitdem sie mit Arlo zusammen war, bewegte sie sich mehr, aber sie konnte die Finger nicht von Süßigkeiten und Käse lassen und blieb pummelig.
»Aber ein hübsches Gesicht hast du.« So drückte Alice es aus. Und bevor sie Arlo kennenlernte, hatte Alice ihr geraten: »Ich bin deine Mutter, ich darf das sagen: Ohne deinen Schwabbelbauch würdest du bestimmt schneller einen netten Mann finden.«
Kathleen hatte Gewissensbisse, weil sie aus Massachusetts weggegangen war, aber das Gefühl der Freiheit überwog. Hier drüben beurteilte sie keiner danach, was vor dreißig Jahren gewesen war. Hier warf ihr niemand vor, auf einer Familienfeier nicht aufgetaucht zu sein, oder deutete an, dass sie sich als Alkoholkranke aufspiele, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Leute von den Biohöfen und bei den Anonymen brachten ihr so viel Respekt und sogar Bewunderung entgegen, dass sie sich manchmal wie eine Hochstaplerin vorkam.
Wenn sie bei den Kellehers war, konnte Kathleen sich selbst nicht leiden. Sie fiel in ihre alte Rolle zurück und war wieder die bittere, reizbare Frau, die bei der kleinsten Provokation explodierte. Es gab Dinge, derer sie sich sehr schämte, und die ließ ihre Familie sie nicht vergessen.
Laut Arlo sollte man sein kurzes Leben mit Menschen verbringen, die einen glücklich machten. Außerdem war er davon überzeugt, dass ein Gefühl der Zugehörigkeit durch Taten entstand. Man war sich nicht nah, nur weil man demselben Stammbaum erwachsen war. Er sah seinen Vater und seinen Bruder alle paar Jahre, wenn einer von ihnen zufällig durch den Ort kam, in dem einer der anderen wohnte. Auf Kathleens Frage antwortete er, dass es ihm kein schlechtes Gewissen bereite, dass er sie nur selten sah. »Wir haben einfach nichts gemeinsam«, sagte er. Sein Bruder war Buchhalter und lebte mit seinen drei Kindern und seiner Frau, einer ehemaligen Miss Iowa, in Des Moines.
»Ich wüsste nicht, worüber wir uns unterhalten sollten«, argumentierte er, als hielten andere Leute der spannenden Gespräche wegen mit ihren Verwandten Kontakt.
Unter den Kellehers galt es als Sakrileg, dass Kathleen nur zweimal im Jahr an die Ostküste kam. Arlo, andererseits, kommentierte ihre Reisepläne nach Massachusetts nur mit den Worten: »Musst wohl mal wieder deine masochistische Ader ausleben.«
Er war eben nicht katholisch aufgewachsen.
»Du kannst froh sein, dass Presbyterianer sich nicht ständig die Schuldfrage stellen.«
»Wie meinst du das?«, hatte er gefragt.
»Ach, nicht so wichtig.«
»Das eigentliche Problem ist ja, dass das, was sie tun und sagen, dir so nahegeht und dich so aufreibt«, sagte er. »Sobald deine Familie auftaucht, bist du gar nicht mehr du selbst.«
»Ich weiß«, hatte sie geantwortet, obwohl sie manchmal Angst hatte, dass es eigentlich andersherum war, dass ihr wahres Ich die schwarze, wütende Seite war, die sie vor Jahren weggesperrt hatte, die Seite, die nur zuhause bei der Familie zum Vorschein kam.
Ann Marie hatte ein paar Tage zuvor angerufen und Kathleen fast den Kopf abgerissen, weil Maggie und Gabe dieses Jahr nur für zwei Wochen nach Maine fahren wollten. Irgendwie hatte ihre Schwägerin sich in den Kopf gesetzt, dass Alice die verbleibenden Juniwochen alleine nicht überstehen würde, obwohl sie doch im Frühling, Herbst und Winter auch wunderbar alleine zurechtkam.
Kathleen atmete tief durch und suchte innerlich nach Arlos Gelassenheit. Ihre Schwägerin war auch nur ein Mensch. Und warum sollte es ihnen nicht möglich sein, vernünftig miteinander zu reden? Aber bei Ann Marie konnte Kathleen nicht anders: Ihr platzte der Kragen. Dachte Ann Marie tatsächlich, dass sie das Geschäft, die Hunde und Arlo einfach so zurücklassen würde, nur weil es ihrer Schwägerin so besser passte?
Als Ann Marie klar wurde, dass
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