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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. Courtney Sullivan
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weitergehen? Werden sie’s dies Jahr ins Finale schaffen?« Jedermann wusste, dass Alice sich nicht für Baseball interessierte. Aber irgendetwas musste sie ja sagen, um ihre Schwester zu schützen.
    »Halt’s Maul!«, lallte er und wurde jetzt erst richtig wütend. »Du warst immer ein braves Mädchen, Mary. Aber jetzt, sieh dich doch an! Und alles für diesen Kerl. Der ist nicht deine Liga. Du mühst dich ab, aber wozu? Ein Kerl wie der heiratet doch nicht eine wie dich.«
    Alice hatte kurz zuvor dasselbe gedacht, aber es von ihm zu hören brachte sie in Rage. Natürlich würde er ihre Schwester heiraten. Henry würde sie beide hier rausholen. Aber diese Vorstellung passte ihrem Vater wahrscheinlich nicht.
    »Meine Tochter wird von einem Krüppel stehengelassen«, sagte er und lachte grausam, und Alice stellte sich vor, wie sie ihre Faust auf seinem Kinn platzierte.
    Sie blickte zu ihrer Mutter, aber die saß nur schweigend da. In dieser Stimmung war er unberechenbar, und keiner war vor ihm sicher. Ihre Mutter hatte die Kinder noch nie verteidigt. Auch nicht, als sie noch klein waren.
    »Er wird sie schon heiraten«, sagte Alice trotzig. »Du weißt ja gar nicht, was du da redest.«
    Da stand ihr Vater langsam auf und ging auf sie zu. Sie war fest entschlossen, sitzen zu bleiben, doch als Mary kreischte sprang sie im letzten Moment auf und rannte, dicht gefolgt von ihrer Schwester, die Treppe hoch. Er kam hinterher und bekam Marys Rock zu fassen, aber sie konnte sich losreißen. Alice sah noch seine Fratze, dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu und hielt den Knauf fest, bis sie hörten, wie er sich davonmachte.
    »Der hat doch keine Ahnung«, sagte sie, um die schluchzende Mary zu trösten. »Komm her.« Mary setzte sich neben sie aufs Bett und legte ihren Kopf auf Alices Schoß. »Du wirst schon sehen: Alles wird gut werden«, sagte Alice und streichelte der Schwester übers braune Haar.
    Alice hatte überzeugend geklungen, aber in dieser Nacht fragte nicht nur Mary sich, wie es weitergehen würde. Drei Wochen später sollten sie es wissen. Aber da war Mary schon nicht mehr da.
    Alice legte die Handtücher zusammen und stapelte sie in den Wäschekorb. Sie hatte gehofft, dass Maine ihr die Gedanken an ihre Schwester austreiben würde. Jetzt begriff sie, wie naiv das gewesen war. Maine war ein Ort des In-sich-gehens. Das hatte Daniel immer gesagt. In ihrem Fall war es eher ein Ort des In-sich-schmorens.
    Sie setzte sich den Korb wie ein Kleinkind auf die Hüfte und ging über die Veranda zum Sommerhaus. Ein Kardinal kam im Sturzflug von einer Pinie herunter und landete im Busch neben der kleinen Wiese, auf der sie, da es keine Einfahrt gab, die Autos parkten. Daniel hatte oft den Amateurornithologen gespielt und den Vögeln alberne Namen gegeben. Wie er diesen wohl genannt hätte? Rote Eminenz vielleicht?
    An der Tür des Sommerhauses hing eine Keramiktafel mit den gälischen Worten: CÉAD MILE FÁILTE – Sei hunderttausendfach gegrüßt. Daniel und sie hatten es vor etwa fünfunddreißig Jahren von einer Dublinreise mitgebracht. Es hatte lange in Canton neben dem Hauseingang gehangen, bis sie irgendwann genug davon hatte. So war es, wie so viele Dinge, von denen sie sich nicht trennen wollte, in Maine gelandet.
    Alice öffnete die Haustür und nahm den vertrauten, modrigen Geruch wahr. Sie ging zum Wäscheschrank im Bad und stapelte die Handtücher hinein.
    Wie sehr der Verlust ihrer Schwester ihr Leben doch bestimmt hatte. Daniel hatte darin den Grund für ihre Trunksucht gesehen, als die Kinder noch klein waren, und auch für ihre Schlafstörungen und die Stimmungsschwankungen. Alice war sich da nicht so sicher. Daniel hatte sie vor Marys Tod nicht gekannt, woher sollte er es also wissen?
    Manchmal vergingen Jahre, in denen es Alice gut ging und sie kaum daran dachte, bis irgendetwas die Wunde von Neuem aufriss. Diesmal war es der Artikel im Boston Globe gewesen. Zwei Jahre zuvor hatte Alice einen alten Schuhkarton voll Zettel und Fotografien ausgemistet und zuunterst ein großes Kuvert gefunden. Es enthielt Fotos ihrer uniformierten Brüder, ein paar Bilder des sechsundzwanzigjährigen Daniel auf der Veranda in Maine mit der kleinen Kathleen auf dem Schoß und schließlich ein Bild, das zwei junge Frauen neben einem Mann in Khakihose und Hemd zeigte, ihr Haar zerwühlt vom Newport Wind und ein fröhliches Lachen auf dem Gesicht. Auf der Rückseite las sie in Marys Handschrift: 28. Mai 1943. Alice,

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