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Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Sommer in Maine: Roman (German Edition)

Titel: Sommer in Maine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. Courtney Sullivan
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Henry und ich.
    Das Foto war auf den Tag genau sechs Monate vor Marys Tod entstanden. Sein Anblick verstörte Alice. Sie zerriss das Bild, warf es in den Müll und sammelte die Schnipsel wenig später wieder heraus.
    Überall lauerten Erinnerungen: Jedes Mal, wenn sie an der Zentrale von Liberty Mutual auf der Berkeley Street vorbeifuhr, wo Mary gearbeitet hatte, versetzte es ihr einen Stich. Die Osterfeiertage erinnerten sie an den albernen Kuchen in Hasenform, den Mary jedes Jahr gebacken hatte. Sie fragte sich oft, was aus Mary und ihren Jugendträumen geworden wäre und was für Kinder sie und Henry gehabt hätten. Seltsam: Alice war die Mutter dreier Kinder, aber ihre zur Mutterschaft geborene Schwester hatte nie die Chance gehabt, auch nur ein einziges Kind zur Welt zu bringen.
    Daniel hatte versucht, sie von den Was-Wäre-Wenn-Grübeleien abzulenken, weil sie Alice traurig machten und ja doch sinnlos waren. Aber jetzt war auch er nicht mehr da. Seit dem Artikel vor ein paar Monaten verfolgten Alice die Gedanken an ihre Schwester mehr denn je. Jungfrau Maria hatte man sie genannt, und jeder, der alt genug war, sich an jene Nacht zu erinnern, erinnerte sich auch an sie.
    Doch was keiner wusste war, dass Alice schuld war. Manchmal dachte sie, dass dieses zentnerschwere Geheimnis mit sich herumtragen zu müssen Teil ihrer Buße war. Als wolle Gott sie damit an ihren Verlust erinnern, fielen ihr in letzter Zeit immer wieder Paare älterer Damen ins Auge. Sie saßen nebeneinander in der Kirchenbank und im Schönheitssalon oder liefen eingehakt durch die Straßen Bostons. Männer waren nicht von Dauer. Aber das sagte einem ja keiner, wenn man als junge Frau verzweifelt nach einem suchte, der einem all das geben sollte, was man sich vom Leben erhoffte. Nein, am Ende blieben die Frauen. Die Schwestern. Sie hatte Freunde, aber das war nicht das Gleiche. Ab einem gewissen Alter hielt man Abstand. Sie konnte Rita O’Shea schwerlich zu einer Pyjamaparty einladen oder sie um Mitternacht mit ihren Sorgen wecken.
    Wenn Mary nicht gestorben wäre, wären sie jetzt vielleicht zusammen in Maine. Wenn Mary nicht gestorben wäre, hätte Alices Leben einen ganz anderen Weg genommen.
    Es war fast Mittag und Alice fand, dass sie auch gleich im Sommerhaus bleiben und sich hier ein Brot machen könne. Sie betrat die winzige Küche der vergangenen Sommer, über die sie sich immer beschwert hatte und die sie doch dem Marmor und Edelstahl im Neubau vorzog. Sie öffnete eine Dose Thunfisch und goss das Wasser ab. Vor einer Woche hatte sie den Kühlschrank geputzt und aufgefüllt: Ketchup und Eingelegtes, Mineralwasser und Pepsi, ein Dutzend Eier, ins Tiefkühlfach Wassereis und in Alufolie verpackte Reste aus Canton. Auf der Arbeitsfläche hatte sie Zwiebeln und ein Paket Pappteller und Plastiktassen bereitgestellt. In den nächsten Wochen würden ihre Kinder und Enkel noch mehr mitbringen, und am Ende des Sommers würde sie im Schrank mindestens vier verschiedene Sorten Cornflakes und mehrere fast leere Chipstüten, im Tiefkühlfach eine einsame Waffel und eine Packung Brigham’s mit einem allerletzten Rest Eis finden. Aber die Grundnahrungsmittel besorgte Alice.
    Sie hatte einmal gehört, wie ihr Enkel Christopher seine Mutter Kathleen fragte, wie es kam, dass im Sommerhaus immer ausreichend Vorräte auf sie warteten. »Zauberei«, war Kathleens Antwort gewesen, und Alice hatte eingeworfen: »Manche nennen es Zauberei, andere Großmutter.«
    Jetzt nahm sie eine kleine Zwiebel aus der Tüte und ein Messer aus dem Block, den sie einige Winter zuvor im Fernsehen gesehen und bestellt hatte, und fing zu schneiden an.
    Einige Zeit lang arbeitete sie so vor sich hin und sagte dabei innerlich das Ave Maria.
    Dann sah sie im Augenwinkel, wie draußen vor dem Fenster etwas über den Rasen flitzte. Ihre Muskeln spannten sich an und die Finger schlossen sich enger um das Messer. Sie wusste genau, wer das gewesen war.
    »Oh nein, das lässt du schön bleiben«, sagte sie.
    Sie rannte hinaus und sah gerade noch, wie das verflixte Kaninchenbaby sich an ihrer schönsten Rose zu schaffen machte.
    »Na warte! Raus da! Verschwinde!«, rief sie und rannte wie eine Wahnsinnige das Messer schwingend auf das Tier zu. Es stellte die Ohren auf und blickte ihr direkt in die Augen. Der hatte vielleicht Nerven!
    Alice lief mit wildem Gesichtsausdruck und dem Messer in der Hand auf ihn zu. Dann schlüpfte er unter der Hecke hindurch und verschwand im

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