Sommer in Maine: Roman (German Edition)
sie zu und stolperte dabei über eine Einkaufstasche. Er schlug mit dem Kopf auf eine gläserne Apfelsaftflasche auf, die dabei zerbrach.
Eine heftig blutende Schnittwunde öffnete sich auf seiner Stirn.
Kathleen hielt sich die Hand vor die Augen: »Nein!«
»Himmel nochmal!«, sagte Alice, griff nach einem Geschirrtuch, kniete sich neben Pat hin und drückte es auf die Wunde, aber es saugte sich sofort voll und das Blut tropfte auf ihre Bluse. »Ach, Schatz!«, sagte sie. »Hast du dir wehgetan?«
Obwohl Alice im ersten Augenblick ruhig wirkte, hatte Kathleen Angst davor, was ihre Mutter als nächstes tun würde, also fragte sie vorsichtig: »Soll ich nicht einen Krankenwagen rufen?«
»Jetzt übertreib mal nicht. Es geht ihm wunderbar«, sagte Alice.
Patrick stöhnte.
»Mama«, sagte Kathleen, »sollten wir ihn nicht zu einem Arzt bringen?«
»Er braucht nichts weiter als einen Verband und ein Stückchen Schokolade«, sagte Alice. »Und ich brauch was zu trinken. Hab ich nicht recht, mein Kleiner?«
Patrick reagierte nicht.
Eine halbe Stunde verging, aber die Blutung ließ nicht nach. Ihr Bruder saß weinend auf Alices Schoß. Sie drückte das Tuch an seine Stirn und Kathleen und Clare standen, ebenfalls weinend, daneben.
»Hört jetzt auf, Mädchen. Ihr macht ihm nur unnötig Angst.«
Ein paar Minuten später gab sie endlich nach: »Er blutet ja immer noch. Herrgott, ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.«
Als Alice Daniel im Büro anrief, erfuhr sie von der Sekretärin, dass er schon gegangen war.
»Typisch.« Sie wirkte erschöpft und wurde immer wütender. »Dann muss ich euch wohl alle mitnehmen«, sagte sie und nahm Patrick auf den Arm. »Ab ins Auto. Los jetzt.«
Alice hatte nicht an die Winterjacken gedacht, und so stiegen die drei nur in Pullover und Latzhosen gekleidet wortlos in den Wagen. Im Auto war es eiskalt, sie konnten ihren Atem sehen, und Clare versuchte, die ihrem Mund entströmende Wolke mit der Hand zu packen.
Draußen schneite es in dicken Flocken. Kathleen und Clare hielten Patrick zwischen sich fest, während der sich das Geschirrtuch an die Stirn drückte.
Auf dem Fahrersitz fing Alice leise zu weinen an: »Ich kann das nicht«, sagte sie immer wieder. »Ich kann das einfach nicht.«
Darauf sagte Patrick mit piepsiger Kinderstimme: »Es ist gar nicht so schlimm Mami. Wein doch nicht.«
Als sie den Wagen auf die Straße lenkte, fiel der Schnee immer dichter, und sie ließ die Scheibenwischer auf höchster Stufe laufen.
Die Schneeketten rasselten, und Kathleen sagte innerlich ein Vaterunser: Möge nur dieses Geräusch aufhören. Dann zählte sie von einhundert herunter. Alice hörte sie, obwohl sie flüsterte, und wandte sich verärgert um. »Hör! Auf!«, fauchte sie.
Dann fuhr Alice laut weinend immer geradeaus. Es war kaum Verkehr und Alice stieg aufs Gas. Kathleen sah die Häuser vorbeijagen und drückte ihren Bruder fester an sich. Sie fuhren zu schnell. Am liebsten hätte sie ihre Mutter gebeten, sich zu beruhigen, weil sie Patrick Angst machte. Wenn nur ihr Vater da wäre. Wenn er sie doch finden würde.
Sie fuhren eine vertraute Strecke, aber plötzlich fühlten sie eine seltsame Schwerelosigkeit. Das Auto brach zur Seite aus und flog über die schneebedeckte Wiese, bis es gegen einen Baum schlug. Kathleen spürte den Aufprall im ganzen Körper. Patrick flog zwischen den Sitzen nach vorne, kam mit einem dumpfen Schlag auf dem Armaturenbrett auf und fiel zurück. Kathleen und Clare flogen gegen die Vordersitze, Alices Kopf zerschlug die Frontscheibe.
Einen Augenblick lang war es vollkommen still. Dann drehte Alice sich um. Ihr Gesicht war blutüberströmt.
»Oh Gott, meine Lieblinge«, sagte sie hysterisch. »Geht es euch gut? Seid ihr alle noch da?«
Sie hatten Glück gehabt. Gott habe ihnen wohl einen Schutzengel geschickt, meinte der Arzt. Patrick hatte es am schlimmsten erwischt: Er erwachte erst Stunden später mit gebrochenen Armen und einem zertrümmerten Kiefer im Krankenhaus aus der Bewusstlosigkeit. Kathleen hatte eine leichte Gehirnerschütterung und verlor zwei Zähne, was eine Reihe schmerzhafter Wurzelbehandlungen im selben Jahr zufolge hatte. Clare kam mit ein paar Kratzern und blauen Flecken davon, und Alice hatte sich das Handgelenk gebrochen und sich eine klaffende Schnittwunde auf der Stirn zugezogen. Alice und Daniel verloren ihre Ersparnisse, um den besten Chirurgen Bostons bezahlen zu können, und trotzdem waren es dreißig
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