Sommer, Sonne, Ferienglück
geschmäcklerisch. Sie hätte ihn erschlagen können. Dann kam die Litanei. Die hörte gar nicht mehr auf.
Entsprechend auch zog sich das Essen. Christas giftigen Blick nahm er nicht mal wahr. Auch nicht die tragische Miene, auf die sie umschaltete. – Kein Funken von Sensibilität! Kaute. Und das noch mit Appetit.
Irgendwann hatte auch diese Prüfung ein Ende, war der letzte Brotkrumen zerkrümelt, der letzte Schluck Wein getrunken, und während er sich den Mund mit der Serviette abtupfte, wuchs in Christa das Horrorbild eines Omnibusses voll hungriger Gäste. Sie wurden über die staubigen Straßen des Veneto transportiert, sie litten – und ein Herr D'Alessio schlug sich den Magen voll!
Gerade als ihre Stimmung zur Weltraumkälte absackte, erhob sich Michele und verkündete: »Jetzt nehm ich's mit jedem auf! Auch mit Tante Fiorella. Spielend. – Gehen wir?«
Christa blieb sitzen.
»Na, wenn du meinst! Wenn ich die Fiorella hinter mir habe, kann ich dich hier wieder abholen. Das heißt, nicht hier. Im ›La Zucca‹ stellen in einer halben Stunde die Stühle auf den Tisch. Aber da drüben gibt's ja noch eine Espresso-Bar.«
Er knickte die Hände resigniert nach außen, hielt den Kopf schief, lächelte – und wollte sich umdrehen.
Da stand Christa auf. Was blieb ihr schon übrig? Erschlagen konnte sie ihn ja immer noch. Oder besser noch: in einen Kanal schmeißen und ertränken …
***
Sie sangen wieder.
»Hoch auf dem gelben Wagen«, sangen sie, »sitz ich beim Schwager vorn!«
Und das aus voller Brust.
Die Dichter Dante, Shakespeare und Petrarca, die Marmorbaldachine der Skalinger, die Römer mit ihrem Amphitheater, die Altstadt nebst Marktständen, Sonnenschirmen, Tauben- und Kaninchen Verkäufern, die Cafes und Pizzerien, auch der Scherenschleifer, bei dem sich Uwe Plaschek noch rasch sein Taschenmesser schleifen ließ, gebucht, abgehakt, aber nicht vergessen.
Beileibe nicht!
Zum Beispiel Reinhold Sottka. Da saß er nun in der letzten Reihe des ›Lago Express‹, die Augen geschlossen, die Miene ausgeglichen, ja, träumerisch entspannt.
Auf den Flügeln der Meditation, mit Hilfe der Tantra-Yoga, die die Wunderwelt der Psyche mobilisieren und die Lebenskraft in genau festgelegte Bahnen lenken kann, hatte sich Reinhold in ein glückliches, zeitloses Nirwana versetzt, – allerdings nicht ohne sich vorher zu versichern, daß Irma Kröppes Hand dort blieb, wo er sie haben wollte, nämlich in seinem Schoß, was zwar den Regeln der Tantra-Yoga-Technik widerspricht, die ja ein unbedingtes Abschirmen gegen alle äußeren Einflüsse voraussetzt, aber ebenso praktisch wie angenehm war.
Außerdem: Irma Kröppe konnte man wohl kaum einen ›äußeren Einfluß‹ nennen. Nicht länger. Seit dem Kuß, den sie ihm im Torbogen des Hauses Nummer 23 gewährt hatte, war Irma Teil von Reinhold Sottkas selbst geworden … Und das, jawohl, sollte sie auch bleiben – zumindest solange der Urlaub dauerte.
Welch geheimnisvolle, schicksalsträchtige Umstände sie doch zusammengeführt hatten! Ein Kuvert, das ein Postbote verlor! Dazu noch ein Postbote, den er beinahe überfahren hätte …
Und so was sollte Zufall sein?
Ganz vorne im Bus, gleich hinter Roberto Zafirellis kurzgeschorenem Kopf, griff Studiendirektor Kienzle gerade erneut zum Mikrophon. Ein Ortsschild hatte ihn alarmiert: Villafranca stand da geschrieben? War das nicht das Villafranca, in dem – wann noch, Himmelherrgott – ach ja, in dem im Jahr 1859 zwischen Kaiser Franz Joseph und Napoleon dem Dritten … Natürlich, das war es!
»Meine Herrschaften! Wenn ich einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken darf, daß wir uns nun Villafranca nähern und daß dieser Ort schon deshalb von höchster geschichtlicher Bedeutung ist, weil hier im Jahre 1859 der Habsburger Franz Joseph und Napoleon III. die Abtretung der Lombardei …«
»Fröhlich die Rosse tra-a-ben, munter schme-ettert das Horn!« kam es zurück.
Nein: Von einem Franz Joseph wollten sie nichts wissen. Schon gar nichts von Napoleon.
»Also bitte! Nochmals: Wenn Sie vielleicht einen Augenblick zuhören wollen?!«
Sie wollten nicht.
Resigniert schob der Studiendirektor das Mikrophon wieder in seine Halterung zurück.
Roberto Zafirelli aber grinste bitter vor sich hin und steuerte den ›Lago Express‹ durch Villafranca, was nun zweifellos einen ziemlichen Umweg bedeutete. Wenn schon! Vielleicht wäre es noch besser über Brescia, Mantua oder sonst was
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