Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
jedem anderen Menschen in meinem Leben. Er ist einfach … alles für mich.“
„Ich verstehe. Es hat mal eine Zeit gegeben, da habe ich das Gleiche für George empfunden.“
Ross war überrascht, eine so ehrliche und persönliche Aussage von Charles zu hören, der sich bis zu diesem Moment sehr zurückhaltend gegeben hatte. „Ich bin sicher, dass mein Großvater mit Ihnen darüber reden möchte.“
„Und mir geht es genauso.“
Ihre Blicke fanden und hielten einander. Ross fühlte sich unerwartet erleichtert, etwas mit diesem Fremden gemeinsam zu haben.
Jane kehrte mit einem Tablett mit Limonade und Keksen zurück. „Womit geht es dir genauso?“, wollte sie wissen.
„Mit meinem Bruder. Ich habe Ross gerade gesagt, dass ich gerne mit George über die Vergangenheit sprechen würde. Wir sind von den engsten Brüdern der Welt zu zwei Fremden auf unterschiedlichen Seiten des Atlantiks geworden“, sagte Charles. „Das könnte unsere Chance sein, herauszufinden, was falsch gelaufen ist – und es vielleicht wiedergutzumachen.“
Als Jane sich vorbeugte, um das Tablett abzustellen, fiel eines der Gläser um. Es landete mit einem Knall auf dem antiken Cocktailtischchen. Das Glas zerbarst in Scherben, und Eiswürfel und die blasse Flüssigkeit verteilten sich auf der Holzoberfläche.
Ross und Charles sprangen auf.
„Bleibt sitzen“, drängte Jane. „Ich habe das Chaos angerichtet, ich mache es auch wieder weg. Ich muss es schnell beseitigen, bevor es alles ruiniert.“
12. KAPITEL
Avalon, Ulster County, New York
Sommer 1945
A m Anreisetag lag im Camp Kioga immer eine besondere Aufregung in der Luft. Jane Gordon hatte die Zeit bis zum Sommeranfang an ihrem Wandkalender heruntergezählt und jeden Tag mit einem dicken X abgekreuzt. Natürlich war es dieses Jahr in einigen Belangen anders als sonst immer – und keines davon war sonderlich gut.
Stuart war jetzt beinahe ein Jahr tot. Er würde nie wieder da sein, um zu helfen, mit allen zu scherzen und selbst die langweiligste Arbeit zu einem Vergnügen zu machen. Niemand würde je wieder sein schiefes Pfeifen hören, wenn er die Rasenflächen mähte, die weißen Linien auf dem Tennisplatz nachzog, das Volleyballnetz spannte oder kleine Reparaturarbeiten an den Stockbetten in den Hütten vornahm.
Ihre Mutter war auch nicht da. Nach dem doppelten Schock im letzten Jahr – erst der Tod von Stuart, gefolgt von der hastigen Schließung und Quarantänelegung des Camps, nachdem bei George Bellamy Polio ausgebrochen war – war irgendetwas mit Janes Mutter passiert. Sie hatte sich verändert, bis sie überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit ihrer Mom hatte.
Vor der Nachricht von Stuart hatte sie immer gesungen, wenn sie an der Spüle aus dem Küchenfenster geschaut und den Blick auf den üppigen Garten und die Schotterstraße zum Haus genossen hatte.
Seitdem die glänzende Limousine diese Straße hinaufgekommen war und die Neuigkeiten über Stuart mitgebracht hatte, war Janes Mutter nicht mehr dieselbe gewesen. Sie benahm sich seltsam; sie schaute immer noch aus dem Fenster, doch sie sang nicht mehr. Manchmal wusch sie das gleiche Saftglas oder den gleichen Salatteller wieder und wieder, bis Jane oder ihr Vater es bemerkten und sie an der Hand nahmen undzum Sofa oder zur Hollywoodschaukel auf der Veranda führten.
Sie war traurig und still. Doch je mehr Zeit verging, desto schlimmer wurde es. Jane war eines Nachts von einem rhythmischen Geräusch aufgewacht – wusch, wusch, wusch – und war hinuntergegangen, wo sie ihre Mutter mit umgebundenem Kopftuch vorfand, wie sie gerade die Veranda fegte. Es war stockfinster.
Das seltsame Benehmen ihrer Mutter hatte Jane Angst gemacht. „Mommy?“, hatte sie leise gesagt. „Es ist mitten in der Nacht.“
„Ja, ja.“ Ihre Mom hatte Jane nicht einmal angeschaut. Genau genommen hatte sie Jane seit dem Tag von Stuarts Gedenkgottesdienst nicht mehr angeschaut.
„Mom, du solltest wieder hineinkommen!“
Ihre Mutter schaute direkt durch Jane hindurch. „Oh!“
Eine Pfütze erschien zu ihren Füßen auf dem Boden.
„Mommy! Du meine Güte!“, hatte Jane peinlich berührt gerufen. „Du hast dich eingenässt.“
Ein paar Tage danach hatte ihr Vater sie beiseitegenommen und ihr erklärt, dass ihre Mutter einen nervösen Zusammenbruch erlitten habe. Sie musste eine Weile fortgehen, an einen Ort, den man Sanatorium nannte. Dort gab es Ärzte und Schwestern, die ihr helfen würden, wieder gesund zu werden.
Als die
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