Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
seinem Mund spüren.
Wie verknallte Teenager stiegen sie aus dem Wasser und sammelten ihre Kleidung ein. In der Hütte fand er zwei dicke, weiche Bademäntel. Er hängte noch schnell ein Bitte nicht stören- Schild an die Tür und schluckte vorsichtshalber eine Tablette. Das Schlafzimmer hatte einen Gaskamin, und er drückte den Knopf und brachte die falschen Holzscheite damit zum Glühen.
„Das ist zauberhaft, George!“ Sie lächelte. „Alles hier ist ganz entzückend.“
Er ließ keine Gedanken an ein mögliches Versagen zu; auch nicht an die Zukunft oder irgendetwas anderes als den momentanen Augenblick. Nein, sie waren nicht jung und stark und schön. Sie waren beide schon älter und aus der Übung, aber ihr Wille und Eifer machten alles andere wett. Die Mischung aus Überraschung und Freude und tiefer Befriedigung gab ihm für einen Moment das Gefühl, zu fliegen.
11. KAPITEL
R oss entschied sich, persönlich Kontakt mit dem Bruder aufzunehmen, anstatt ihn anzurufen. Er nahm an, es wäre schwieriger für Charles, ihn abzuweisen, wenn er ihm gegenüberstand. Außerdem konnte Ross nicht verleugnen, dass er neugierig war. Er hatte gerade erst von einem vollkommen unbekannten Zweig der Familie erfahren, also war es nur logisch, dass er neugierig war. Und hoffnungsvoll. Vielleicht würde sein Bruder George einen Grund geben, um sein Leben zu kämpfen.
Er überprüfte noch einmal die Adresse und fuhr durch die von Bäumen gesäumten Straßen Avalons. Ihm schien, als wanderten seine Gedanken alle paar Minuten zu Claire Turner. Der Kuss am Wasser war von unerwartetem Zauber erfüllt gewesen. Er konnte sich einreden, sie wäre irgendwer; die erste Frau, die er nach seiner Rückkehr ins zivile Leben geküsst hatte, musste zwangsläufig etwas Besonderes sein. Aber er fühlte sich auf eine machtvolle Art von ihr angezogen, die er sich selber nicht erklären konnte.
Er sollte sie nicht mögen. Er hatte seinem Großvater geschworen, dass er sie niemals mögen würde. Aber genau, wie der vorhergesagt hatte, faszinierte sie ihn. Und ja, sie machte ihn auch an. Ob das nun richtig oder falsch war – er wusste nur, dass er mit ihr noch lange nicht fertig war.
Mit großer Anstrengung riss er seine Gedanken von ihr los und konzentrierte sich auf die bevorstehende Aufgabe. Heute ging es nicht um ihn, sondern um seinen Großvater.
Letzte Nacht, nachdem sie vom Fliegenfischen zurückgekehrt waren, hatten Ross und Claire sich in der gut ausgestatteten Bibliothek des Camps umgesehen. Sie hatten in alten Sammel- und Fotoalben geblättert und so eine ganze Menge über Charles erfahren. 1956 hatte er die Tochter der Campbesitzer geheiratet. Das Paar war zwischen New York City und Avalon gependelt und hatte vier Kinder aufgezogen – zweiJungen und zwei Mädchen. Erst kürzlich hatten Charles und Jane sich endgültig in Avalon niedergelassen, nachdem sie im Jahr zuvor hier ein Häuschen gekauft hatten.
In dem alteingesessenen Viertel standen schöne, aber nicht übermäßig prachtvolle Häuser. An den Vorderveranden hingen Blumenkörbe, und die Bürgersteige waren blitzblank gefegt. Am Anfang der Straße stand ein Schild, das sie als Spielstraße auswies. Von außen schien das Haus eine hübsche, gemütliche Bleibe zu sein, die sogar eine Plakette von der Historischen Gesellschaft trug, die sie als Sehenswürdigkeit auswies. Ein kleines Messingschild unter der Hausnummer verriet den Namen der Bewohner: Bellamy.
Der Name war nicht ganz so selten, aber es war schon etwas verstörend, sich vorzustellen, dass die Fremden, die hier wohnten, seine Verwandten waren. Ross straffte die Schultern, räusperte sich und drückte auf den Klingelknopf.
Er wartete. Wünschte sich, irgendwo anders zu sein als hier. Wappnete sich für eine unbeholfene Begegnung. Wünschte sich, die Situation wäre anders, als sie war.
Was zum Teufel sollte er denn nur sagen? Wie formulierte man sein Anliegen? Was sollte …
Die Tür schwang auf. „Ja? Kann ich Ihnen helfen?“
Es war ein Junge, ungefähr im Highschoolalter, mit blonden Haaren, hellen Augen und Yankees-T-Shirt.
Ross zögerte. Vielleicht war es doch das falsche Haus. Aber nein, da war etwas vage Vertrautes in den Zügen des Teenagers. In dem Zimmer hinter dem Flur spielten ein paar andere Jungs Wii Golf. Ross kannte sich mit Videospielen aller Art aus; er hatte in Übersee zwischen seinen Einsätzen viele Stunden damit verbracht, virtuelle Autodiebe zu stellen und Bonuspunkte zu
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