Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Wochen und Monate vergingen, ging es Janes Mutter auch langsam besser. Jeden Sonntagnachmittag besuchten Jane und ihr Vater sie in der Klinik in Poughkeepsie. Sie war nicht mehr ihr altes singendes, Klavier spielendes Selbst, aber sie konnte wieder einer Unterhaltung folgen, sich selbstständig anziehen und sich die Haare machen.
Sie versuchte ein paar Mal, nach Avalon zurückzukehren, aber es war zu viel für sie. Irgendwann wurde entschieden, dass sie bei ihrer Schwester in New Haven bleiben würde.
Jane versuchte, sich nicht selber zu bemitleiden, aber manchmal konnte sie nicht anders. Wenn sie merkte, dass sietraurig wurde, schnappte sie sich ein Kanu und paddelte stundenlang auf dem See herum, erforschte die tiefen und geheimen Orte des von Wald umgebenen Gewässers.
Trotz des Ärgers mit ihrer Mutter gab es etwas in Jane, was nicht kleinzukriegen war und das sie sich weiter auf den nächsten Sommer freuen ließ. Manchmal vergaß sie einen ganzen Tag lang die Sorgen um ihre Mutter und fühlte sich sofort schuldig, wenn es ihr auffiel. Als sie das einmal ihrem Vater gestand, drückte er sie an sich und sagte: „Es ist in Ordnung, dein Leben zu leben, Janie. Manchmal ist es das Einzige, was man tun kann – sein Leben zu leben. Komm, du kannst mir helfen, die Flagge für den Eröffnungstag zu hissen.“
Als Campbesitzer sollten sie keinen der Gäste bevorzugen, aber das gelang Jane nicht ganz. Im letzten Jahr waren ihre allerliebsten Gäste von allen die Bellamy-Brüder gewesen, George und Charles. Als sie hörte, dass die beiden dieses Jahr wiederkommen würden, war sie außer sich vor Freude. Sie hatte ihre gemeinsamen Abenteuer geliebt, die drei Musketiere, die gemeinsam die Welt erkundeten und aufeinander aufpassten. Sie war voller Vorfreude darüber, diesen Sommer wieder mit ihnen verbringen zu können.
„Ich habe mir wegen George solche Sorgen gemacht, Pa.“
Ihr Vater nickte. „Das hat jeder. Wenn die Polio ihn getötet hätte, hätten wir aber davon gehört, nehme ich an.“
Sie konzentrierte ihre gesamte Energie darauf, die Flagge zu hissen. „Ich kann es kaum erwarten, ihn zu sehen! Ich bin so froh, dass es ihm gut geht.“
„Janie, er wird möglicherweise …“
Das Läuten der Campglocke unterbrach ihn, und gemeinsam eilten sie los, um den Gästen ein dem Camp Kioga angemessenes Willkommen zu bereiten. Die Menschen kamen in großen Bussen. Da das Benzin immer noch rationiert war, fuhr kaum jemand mit dem Privatwagen, nicht einmal die Reichsten von ihnen.
Mit ihren zwölf Jahren fühlte Jane sich schon ziemlich erwachsen.Sie trug ein neues Matrosenkleid und ihre neuen Mary Janes. Ihre Haare fielen in Ringellöcken über ihre Ohren, und Mrs Romano, die Chefköchin, sagte, sie sähe genauso aus wie Shirley Temple. Sie hatte den ganzen Tag schwer darauf geachtet, sich nicht schmutzig zu machen.
Gemeinsam mit ihrem Vater und den Angestellten begrüßte sie die alten und neuen Gäste. Als jemand sie nach ihrer Mutter fragte, gab Jane die Antwort, die sie wieder und wieder geübt hatte, bis sie sie sagen konnte, ohne zu weinen. „Sie verbringt den Sommer bei ihrer Schwester in Connecticut.“
Jane schaffte es sogar, Violetta Winslow anzulächeln, die ein echter Snob war und über niemanden je ein gutes Wort verlor. Mrs Winslow erklärte, dass der neue Anstrich an den Hütten hübsch aussähe, sie aber hoffe, dass sie auch im Inneren renoviert worden wären. „Ich bin sicher, dass Sie alles zu Ihrer vollsten Zufriedenheit vorfinden werden“, erwiderte Jane.
Es war beinahe unerträglich, darauf zu warten, dass Charles und George aus dem Bus stiegen. Verflixt und zugenäht, dachte sie. Würden sie als Letztes kommen? Es war nicht fair, sie warten zu lassen. Überhaupt nicht fair.
Sie hatte große Pläne für diesen Sommer. Sie wollte die Quelle der Meerskill Falls finden, des großen Wasserfalls, der aus schwindelerregender Höhe über dem Willow Lake hinunterstürzte. Sie wollte auf den Grund des tiefsten Teils des Sees tauchen. Sie wollte mit dem Schlauchboot über die Stromschnellen des Flusses reiten und die Felsenwand der Schlucht hochklettern.
Eine schlanke Frau in einem eleganten Sommerkleid entstieg dem Bus. Sie trug einen roten Schal und eine dunkle Brille, was sie aussehen ließ wie Lana Turner. Konnte das …?
Ja. Das war definitiv Mrs Bellamy. Endlich waren Janes Lieblingsgäste angekommen. Charles sprang mit einem Satz aus dem Bus. Er war ein ganzes Stück gewachsen, stellte
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