Sommer unter dem Maulbeerbaum
während sie ihnen aus einer silbernen Kanne Tee einschenkte. Sie hatte telefonisch einen »Frühstückstee« bestellt und zehn Minuten später war ein Festessen erschienen. Hereingerollt wurde es auf einem Tisch, der kaum alles fassen konnte. Es gab winzige Würstchen in Blätterteig, Eier in drei verschiedenen Variationen, gegrillte Tomaten und genügend Scones und Muffins, um damit eine Bäckerei zu eröffnen.
Matt und Bailey waren ungefähr dreißig Sekunden lang bemüht, höflich zu erscheinen, bevor der Hunger die Oberhand gewann und sie sich auf das Essen stürzten.
»Der Turnbull hat meine Farm gehört«, bemerkte Bailey mit vollem Mund. »Der Frau von dem Einmach-Mann.«
»Ja«, bestätigte Martha. Sie sah den beiden beim Essen zu, verkniff sich aber taktvoll die Frage, wie lange sie schon nichts mehr zu sich genommen hatten. »Hilda war sehr verschlossen und sprach selten mit jemandem über sich, aber in der Stadt erzählte man sich, dass sie als junge Frau einen sehr reichen und sehr alten Mann geheiratet hatte. Nach dem, was ich gehört habe, glaubten die Leute, sie hätte gehofft, er würde gleich sterben, damit sie an sein Geld kam.«
»Moment mal«, warf Matt ein. »Sie sagen die ganze Zeit, sie hätten »gehört«. Wo waren Sie denn?«
»Und wo war Jimmy?«, fügte Bailey hinzu.
Martha holte tief Luft. »Luke und ich wohnten allein oben in den Bergen. Als Luke ein kleines Kind war, nahm Frank ihn ein paarmal mit in die Stadt. Aber die Leute starrten das Baby dermaßen an, dass Frank ihn in meiner Obhut ließ. Er kam uns an den Wochenenden besuchen.«
»Warum haben Sie Jimmys Gesicht nicht operieren lassen?«, fragte Bailey.
Martha ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ich habe Angst, es Ihnen zu sagen, weil Sie dann meinen Sohn hassen werden - und mich auch.«
Bailey schüttelte den Kopf. »Vielleicht werde ich das, aber es gibt so viele andere Menschen, die ich hassen müsste, dass Sie und Frank ganz unten auf meiner Liste stehen werden.«
Martha und Matt lachten beide.
»Ich hatte so viele Jahre Zeit, über den Grund nachzudenken, warum das alles geschehen ist, und ich glaube, es läuft alles auf Liebe hinaus. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ...« Marthas Augen bohrten sich in Baileys, »... vielleicht brauche ich es Ihnen gar nicht zu erklären. Luke liebte sehr intensiv. Wenn Sie je in den Genuss von Lukes Liebe gekommen sind, dann wissen Sie, was ich meine. Lukes Liebe hielt Frank und mich am Leben. Ergibt das einen Sinn?«
»O ja«, sagte Bailey. »Diese Liebe konnte einen erdrücken, aber man konnte sich ihr auch nicht entziehen.«
»Genau«, bestätigte Martha. »Und mich traf ebenfalls
Schuld.“ Einen Augenblick lang blickte sie im Zimmer umher. »Gott möge mir vergeben, aber was blieb mir denn, wenn Luke seinen Mund gerichtet bekommen und mich verlassen hätte? Ich war eine arme Witwe. Frank war mein einziges Kind, und ich machte mir keine Illusionen, dass er mich nur annähernd so oft besuchen würde, wenn Luke nicht mehr da war. Luke und diese Spalte in seiner Oberlippe machten uns zu einer Familie.“
Matt beobachtete Martha und bemerkte, wie sie die Hände rang. Offensichtlich lastete das, was sie ihrem Enkel angetan hatte, schwer auf ihr. »Was war denn nun mit Hilda Turnbull?«, fragte er sanft.
»Sie ...” Martha gab sich alle Mühe, ihre Fassung wiederzugewinnen. »Ich habe sie einmal zu Gesicht bekommen. Sie war klein, stämmig und blickte immerzu grimmig drein.«
Als Martha den Faden zu verlieren schien, sagte Bailey sanft: »Ist ihr alter Ehemann denn gestorben?«
»Ja«, antwortete Martha, die sich anscheinend wieder gefangen hatte. »Aber erst als Hilda schon fast vierzig war und zwei halbwüchsige Kinder hatte.«
»Eva und Ralph«, ergänzte Bailey.
»Ja.«
»Warum hat denn keiner aus Calburn sie wiedererkannt? Sie sind doch oft genug im Fernsehen«, bemerkte Matt. »Warum hat niemand gesagt: He! Diese beiden sind Hilda Turnbulls Kinder und sie haben überhaupt nichts mit James Manville zu tun-?«
Martha lächelte. »Vor allem deswegen, weil die Calburner sie kaum je zu Gesicht bekamen. Hilda steckte sie in ein Internat nach dem anderen und im Sommer kamen sie ins Zeltlager. Es waren pummelige, langweilige Kinder. Keiner hat sie groß beachtet. Luke schrieb mir, in den Schulen, auf die sie gingen, hät-te es einige Male gebrannt, und er war sicher, Ralph hatte es getan. Aber niemand hat ihn je verdächtigt, denn er war so
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