Sommerbuch
sichert sie noch mehr ab. Eine Insel kann schrecklich werden für jemanden, der sich von außen her nähert. Alles ist fertig und jeder weiß seinen Platz, eigensinnig, seelenruhig, selbstzufrieden. Innerhalb der Ufer funktioniert alles nach Ritualen, steinhart in der Wiederholung, und indessen wandern sie durch ihre Tage, nach Lust und Laune und wie es gerade kommt, als ob die Welt am Horizont zu Ende sei. Die Großmutter überlegte all dieses so intensiv, daß sie die Kartoffeln und Berenice vergaß. Sie blickte hinaus über den Leestrand und die Wellen, die die Insel an beiden Seiten umspülten, die sich miteinander vereinten und weiter ans Festland rollten, eine lange blaue Landschaft mit entschwindenden Wellenkämmen, die nur eine kleine Strömung ruhigen Wassers hinter sich ließen. Quer durch die Bucht ging ein Fischerboot mit einem Gischtwirbel zu beiden Seiten, der wie ein großer weißer Schnauzbart aussah.
»Aha«, sagte die Großmutter. »Dort fährt ein Boot .« Sie kehrte sich nach Berenice um, aber jetzt hatte sich das Kind ganz unter der Kiefer versteckt. »Aha !« sagte die Großmutter noch einmal. »Spitzbuben! Jetzt müssen wir uns verstecken. Jetzt kommen sie .«
Mit einiger Mühe kroch sie unter die Kiefer und flüsterte: »Siehst du, dort sind sie. Sie kommen her. Komm mit, an eine sichere Stelle .« Sie fing an, über den Felsen zu kriechen, und Berenice kam auf allen vieren mit rasender Eile nach. Sie gingen um das kleine Ried mit den Sumpfheidelbeeren herum und kamen an einen Erdbruch mit Weidensträuchern, es war feucht, aber das ging nun mal nicht anders.
»Na also«, sagte die Großmutter. »Für den Augenblick sind wir in Sicherheit !« Sie guckte Berenice ins Gesicht und fügte hinzu: »Ich meine, wir sind also in Sicherheit. Hier finden sie uns nie !«
»Warum sind das Spitzbuben ?« flüsterte Berenice .
»Weil sie uns stören«, antwortete die Großmutter. »Auf der Insel wohnen wir. Und alle, die in ihre Nähe kommen, sollen sich gefälligst fernhalten .«
Das Fischerboot fuhr weiter. Sophia wanderte umher und suchte. Sie suchte eine halbe Stunde, und als sie sie endlich gefunden hatte und sah, daß sie Froschlaiche aufscheuchten, wurde sie zornig. »Wo seid ihr gewesen ?« schrie sie. »Ich habe euch überall gesucht !«
»Wir haben uns versteckt«, erklärte die Großmutter.
»Wir haben uns versteckt«, wiederholte Berenice . »Keiner darf hierher kommen .« Sie ging ganz nah an die Großmutter heran und starrte Sophia immerfort an. Sophia sagte nichts. Sie machte plötzlich kehrt und lief weg.
Die Insel schrumpfte, wurde eng. Wohin sie auch ging, wußte sie genau, wo die beiden waren, und mußte weit weggehen, und sobald sie verschwanden, war sie gezwungen, sie wieder zu suchen, damit sie selbst wieder fortgehen konnte.
Mit der Zeit war die Großmutter müde geworden. Sie kletterte die Stufen zum Gästezimmer hinauf. »Jetzt will ich ein bißchen lesen«, sagte sie. »Lauf und spiel eine Weile mit Sophia .«
»Nein«, sagte Berenice .
»Dann spiel allein !«
»Nein«, sagte Berenice und fürchtete sich wieder.
Die Großmutter holte einen Zeichenblock und einen Kohlestift. »Du kannst ein Bild malen«, sagte sie und legte die Sachen auf die Stufen.
»Ich weiß nicht, was ich malen soll«, antwortete das Kind.
»Mal was richtig Schreckliches !« sagte die Großmutter. Jetzt war sie nämlich wirklich müde. »Zeichne das Schrecklichste, was du dir denken kannst und male daran so lange wie möglich .«
Dann machte sie die Tür fest zu, legte sich aufs Bett und zog die Decke über den Kopf.
Der Wind säuselte friedlich und weit entfernt an den Ufern entlang und umfing den Mittelpunkt der Insel, das Gästezimmer und den Holzplatz.
Sophia zog den Fischkasten ans Fenster, kletterte hinauf und klopfte dreimal lang und dreimal kurz an die Scheibe. Als die Großmutter aus ihren Decken gekommen war und einen Spalt geöffnet hatte, teilte Sophia mit, daß sie aus dem Bund ausgetreten sei! »Die Pipse da !« sagte sie. » Pipsen interessieren mich nicht. Was macht sie? !«
»Sie zeichnet. Sie zeichnet das Schrecklichste, was ihr nur einfallen kann .«
»Sie kann nicht zeichnen«, flüsterte Sophia leidenschaftlich. »Hast du ihr meinen Block gegeben? Warum soll sie eigentlich zeichnen ?«
Das Fenster wurde zugeworfen, die Großmutter legte sich hin.
Dreimal kam Sophia zurück, jedesmal mit einem schrecklichen Bild, das sie an die Scheibe klebte, mit der Zeichnung nach
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