Sommerbuch
in der Farbe war zu wenig Leim gewesen, sie blätterte ab.
»Was machst du denn ?« rief Sophia. »Ist dir übel ?«
»Nein«, antwortete die Großmutter durch die Luke. »Mir geht es besser .«
Sehr vorsichtig streckte sie das eine Bein aus und fand die Sprosse. Dann drehte sie sich langsam um, auf den Bauch, und holte das andere Bein nach.
»Vorsichtig«, rief Sophia von unten. Sie sah, wie die steifen Beine der Großmutter sich von einer Sprosse zur anderen bewegten und endlich auf den Boden hinabkamen. Die Großmutter hob den Bademantel auf und kam ans Bett.
»Du mußt ihn erst ausschütteln«, sagte Sophia. »Damit es herauskommt .«
Die Großmutter verstand das nicht, schüttelte den Mantel aber trotzdem. Es huschte durch den Ärmel und verschwand in der Türritze. Der Mantel hatte den gleichen Geruch wie vorher. Er war sehr schwer und wurde sofort zu einer dunklen warmen Grotte. Sophia schlief ein, und die Großmutter setzte sich ans Nordfenster, um zu warten: es stürmte, und die Sonne begann zu sinken. Sie war weitsichtig und sah das Boot eine halbe Stunde, bevor es ankam, mit weißen Gischtbarten , die nicht regelmäßig auftauchten, manchmal gab es gar keine.
Als sich das Boot im Windschutz befand, legte sie sich aufs Bett und schloß die Augen. Allmählich kam auch Sophias Vater ins Haus, er war ganz nah. Er stellte die Körbe ab und zündete sich die Pfeife an. Dann nahm er die Lampe und ging hinaus, um sie mit frischem Petroleum zu füllen.
Die große Plastikwurst
Sophia wußte, daß sehr kleine Inseln im Meer nicht Erde, sondern Torf haben. Der Torf ist gemischt mit Tang, Sand und unschätzbarer Vogelscheiße, was zur Folge hat, daß al les so gut auch zwischen den Steinen wächst. Jedes Jahr blüht es ein paar Wochen in jeder Felsenspalte, und mit viel kräftigeren Farben als sonstwo im ganzen Lande. Die armen Menschen aber, die auf den grünen Inseln in den inneren Scharen wohnen, müssen sich mit einem gutbürgerlichen Garten trösten. Dort können sie ihren Kindern befehlen, Unkraut zu jäten und Wasser zu schleppen, bis sie zusammenbrechen. Eine kleine Insel dagegen, die braucht keine Hilfe! Sie trinkt ihr Schneewasser, ihren Frühlingsregen und schließlich Tau, und wenn die Trockenzeit kommt, wartet die Insel bis zum nächsten Sommer und macht eben dann erst ihre Blumen. In aller Ruhe bleiben sie in ihren Wurzeln, sie sind es gewohnt. Niemand braucht ihretwegen schlechtes Gewissen zu haben, sagte die Großmutter.
Zuerst kam die Skorbutwurzel, ein paar Zentimeter hoch, aber lebenswichtig für die Seeleute, die von Schiffszwieback leben. Dann kam ungefähr zehn Tage später im Windschutz des Seezeichens die nächste Pflanze: das Stiefmütterchen. Die Großmutter und Sophia gingen jedes Jahr dorthin, um sie sich anzusehen; manchmal blühten sie Ende Mai, manchmal erst Anfang Juni. Sie mußten jedesmal lange angeschaut werden. Sophia fragte, warum das Stiefmütterchen wichtig sei, und die Großmutter antwortete: »Weil es das erste ist .«
»Nein, das zweite«, sagte Sophia.
»Aber sie kommen immer an der gleichen Stelle hoch«, sagte die Großmutter.
Sophia glaubte, das taten alle anderen auch, mehr oder weniger, aber sie sagte nichts. Jeden Tag ging die Großmutter an den Ufern entlang und guckte nach, was schon gekommen war. Wenn sie ein Stückchen abgerupftes Moos fand, drückte sie es wieder in sein richtiges Loch. Da die Großmutter Schwierigkeiten hatte, auf die Beine zu kommen, nachdem sie sich hingesetzt hatte, war sie äußerst geschickt mit ihrem Stock. Sie glich einem großen Regenpfeifer, wenn man sie gehen sah, langsam und mit steifen Beinen; oft blieb sie stehen, drehte ihren Kopf hin und her, und sie sah alles, was passiert war, und ging wieder weiter.
Die Großmutter war nicht immer ganz logisch. Obwohl sie wußte, daß man wegen kleiner Inseln, die sich selbst versorgten, kein schlechtes Gewissen zu haben braucht, war sie dennoch beunruhigt, wenn es plötzlich sehr trocken war. In der Dämmerung tat sie, als ob sie etwas beim Sumpfloch zu tun hätte. Sie hatte dort eine Kanne unter den Erlen versteckt und schöpfte das allerletzte Grundwasser mit einer Kaffeetasse.
Und damit ging sie umher und verspritzte ein wenig hier und ein wenig da, und gab dem, was sie am meisten mochte, danach versteckte sie die Kanne wieder. Im Herbst sammelte die Großmutter in Streichholzschachteln wilde Samen, die sie am letzten Tag auf der Insel aussäte, niemand wußte wo.
Die große
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