Sommerbuch
Geborgenheit und Erinnerung. Der Bademantel roch nach Strand und nach Rauch, was sie aber vielleicht nicht gemerkt hatten. Jedenfalls kam er zurück.
Die Winde stürmten, drehten sich und kehrten zurück, Wellen schlugen gegen die Insel, und eines schönen Tages trugen sie den Bademantel nach Hause. Nun roch er nach Tang, und in jenem Sommer ging der Vater fast nur im Bademantel. Und dann war da jenes Frühjahr, als sie eine Mäusefamilie im Bademantel entdeckten. Der Kragen hatte eine weiche flauschige Borte, den sie abgebissen und als Bettzeug benutzt hatten, dazu noch feinseidene Taschentücher. Und einmal sengte der Bademantel an, als der Vater zu dicht am Feuer schlief.
Als der Vater älter wurde, legte er den Bademantel auf den Boden. Er ging zuweilen dorthin, wenn er nachdenken wollte. Die anderen stellten sich dann vor, daß er im Bademantel nachdachte. Der Bademantel lag meistens unterhalb des kleinen südlichen Bodenfensters, lang und dunkel und unergründlich.
In jenem Sommer, als Sophia in einem neuen Trotzalter war, regnete es oft, es war kalt und umständlich, wenn man sich außerhalb des Hauses aufhalten wollte. Deswegen stieg Sophia auf den Dachboden, um allein zu sein. Sie setzte sich in eine Pappkiste und betrachtete den Bademantel. Sie sprach heftige und schlimme Dinge aus, und für den Bademantel war es sehr schwer zu widersprechen.
Zwischendurch spielte sie mit ihrer Großmutter Karten. Beide pfuschten gleich schamlos, und ihre Kartenspiel-Abende endeten jedesmal mit Zank. Das war bisher nie passiert. Die Großmutter suchte sich ihre eigenen Trotzperioden ins Gedächtnis zu rufen, um verständnisvoll zu sein, sie konnte sich jedoch nur an ein ungeheuer braves Kind erinnern. Klug wie sie war, sah sie ein, daß das Trotzalter aufgeschoben werden kann, bis man 8 5 Jahre alt ist, und sie nahm sich vor, auf sich selbst aufzupassen. Es regnete die ganze Zeit, und der Vater arbeitete von morgens bis abends mit dem Rücken zum Zimmer. Sie wußten nie, ob er zuhörte oder nicht.
»Jesus«, sagte Sophia, »da sitzt du mit dem König und sagst nichts !«
»Mißbrauche nicht den Namen Gottes«, antwortete die Großmutter.
»Ich habe nicht Gott gesagt, ich habe Jesus gesagt .«
»Der ist genauso wichtig wie Gott .«
»Das ist er wirklich nicht .«
»Doch, das ist er .«
Sophia warf ihre Karten auf den Boden und rief: »Mir ist seine Familie völlig egal. Alle Familien sind mir egal !« Sie kletterte die Bodenstiege hinauf und warf die Luke hinter sich zu.
Der Boden war so niedrig, daß man kriechen mußte. Wenn man nicht aufpaßte, stieß man sich den Kopf an den Dachsparren. Es war sehr eng, nur ein schmaler Gang zwischen allem, was man aufgehoben und vergessen hatte, Dingen, die immer da waren und die nicht mal die Verwandtschaft gefunden hatte.
Der Gang lief zwischen dem südlichen Fensterloch und dem nördlichen, und die Decke zwischen den Sparren war mit Blaukreide gestrichen.
Sophia hatte keine Taschenlampe dabei, es war dunkel. Der Gang war eine verlassene Straße im Mondschein zwischen ausgezackten Häusern, unendlich lang. Am Ende der Straße war das Fenster mit mondweißem Himmel, und unter dem Fenster lag der Bademantel, ein Wesen mit steifen Falten, kohlschwarz in seinem eigenen Schatten. Sophia hatte die Klappe mit solchem Krach zugeworfen, daß es kein Zurück mehr gab. Deswegen kroch sie weiter und setzte sich in ihren Pappkarton.
Der Bademantel lag da, mit dem einen Ärmel vorn über die gähnende Halsöffnung geworfen, sie sah ihn sich an, und während sie ihn betrachtete, bewegte sich der Ärmel, nur ein kleines bißchen, und die leichte Bewegung kroch unter dem Mantel entlang zum Fußende hin. Die Falten veränderten sich unmerklich, der Mantel war wieder unbeweglich. Aber gesehen hatte sie es. Dort war es, im Bademantel drin! Etwas, das lebte. Oderauch war er selbst lebendig. Sophia benutzte die einfachste und einzige Fluchtmöglichkeit, die man in der Not hat, sie schlief ein. Sie schlief immer noch, als man sie ins Bett legte. Aber am Morgen wußte sie: die Gefahr wohnte im Bademantel! Niemand durfte das wissen. Sie behielt diese wundersame Wahrheit für sich und war in den nächsten Tagen richtig guter Laune. Der Regen hatte aufgehört. Sophia zeichnete zackige Schatten, und den Mond machte sie sehr klein, vergessen an einem riesigen schwarzen Himmel. Ihre Zeichnungen zeigte sie niemandem. Das Gefährliche sitzt in einer Falte, ganz tief drinnen. Es bewegt sich manchmal
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