Sommerfalle
Moment, dann fragte sie: »Mrs. Randazzo? Könnten Sie mich vielleicht umsetzen? Ich möchte nicht … Also, Tiffany und ich verstehen uns nicht besonders. Könnte ich vielleicht lieber ganz nach vorne? Bitte.«
»Erinnere mich morgen noch mal daran, dann setzen wir euch um.«
Mrs. Randazzo war Eddies Lieblingslehrerin. Er hatte sie schon ein Jahr zuvor in der neunten Klasse in Englisch gehabt, bevor seine Mutter ihn aus dem regulären Unterricht geholt und in die Förderstufe gesteckt hatte. Hier im Förderzentrum gaben Mrs. Randazzo und Mr. Waggoner gemeinsam in der ersten Stunde einen Englischkurs für Zehntklässler.
Sie schien ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Er war ein eifriger Leser, und sie ermutigte ihn, auch privat zu lesen. Dazu lieh Mrs. Randazzo ihm sogar ihre eigenen Bücher, die sie mit Anmerkungen und Kommentaren vollgeschrieben hatte. Er kam sich vor, als würde er ihre Gedanken lesen, wenn er die Notizen in den Randspalten entzifferte.
»Eddie, wie geht’s denn heute? Ist dein Aufsatz fertig?«, fragte sie freundlich.
»Hier.« Eddie hielt ihr die Seiten hin, er war nicht in der Lage, mehr als dieses eine Wort zu sagen.
»Ich bin gespannt darauf, ihn zu lesen. Du hast wirklich eine Begabung fürs Schreiben, weißt du?« Mrs. Randazzo war die schüchternen Reaktionen des Jungen gewohnt, wenn sie seine schriftlichen Arbeiten lobte. Diesem Jungen musste man schon besondere Aufmerksamkeit schenken, um ihn aus der Reserve zu locken.
»Mhm«, murmelte Eddie nur.
»Mr. Waggoner ist heute nicht da, es sieht ganz so aus, als wenn ich die Stellung hier allein halten muss. Meinst du, das bekomme ich hin? Da diese Klasse ja nur halb so groß ist wie meine anderen, sollte es wohl zu schaffen sein.« Sie lächelte ihn weiter an, auch wenn er inzwischen seitwärts zurück auf seinen Platz schlich.
Eddie schenkte ihr sein typisches schiefes Lächeln und setzte sich. Er hatte eines ihrer Bücher in seiner Tasche, um es zurückzugeben. Aber eigentlich wollte er sie fragen, ob er es nicht behalten könne. Denn so etwas wie Der kleine Hobbit hatte er noch nie zuvor gelesen. Es war so abenteuerlich und irreal, aber gleichzeitig könnte die Geschichte durchaus auch wahr sein.
Der Gong läutete.
Die junge Schwesternschülerin betrat Zimmer 304, um nach der Patientin zu sehen. Die war immer noch nicht wach, aber sie hatte sich aus eigener Kraft bewegt. Ihr sogenannter Beschützer war noch nicht wieder aufgetaucht. Er hatte eine dünne Jacke auf dem Bett liegen gelassen, quer über den Beinen der Patientin. Die Schwester strich die Decke glatt und wollte die Jacke auf den Stuhl legen. Etwas Schweres lastete in einer der Taschen. Sie drückte darauf, während ihr Blick von der Patientin zur Tür und wieder zurück ging. Sie war neugierig, hatte sich aber vorgenommen, an ihrer Professionalität zu arbeiten. Daher hängte sie die Jacke nun über die Stuhllehne.
Rebecca regte sich.
»Ist schon gut. Du bist jetzt in Sicherheit. Du bist im Krankenhaus. Alles wird wieder gut.«
Rebecca schlief weiter.
Sie war kein bisschen müde mehr, als sie mit den Augen ihr neues, dunkles Gefängnis absuchte. Diesmal wusste sie wenigstens, wo sie war und was sich in dem Raum befand. Sie hielt ihre Uhr in den Lichtstrahl am Boden und konnte die Zeit erkennen: ein Uhr mittags. Ihr Gefängniswärter war wahrscheinlich in der Nähe. Sie überlegte, dass ihre Chancen auf eine Flucht besser waren, wenn sie sich still verhielt und ihn in dem Glauben ließ, sie würde noch schlafen.
Rebecca konzentrierte sich auf zwei Möglichkeiten. Sich ruhig verhalten und schlafend stellen, um einen Fluchtversuch zu starten, sobald er reinkam. Oder aktiv versuchen, sofort auszubrechen. In beiden Fällen brauchte sie eine Waffe. Sie rüttelte vorsichtig an der Liege. Es war eine alte, stoffüberzogene Campingliege mit Beinen und seitlichen Verstrebungen aus Holz. Sie baute sie auseinander und probierte, ein Bein wie einen Baseballschläger zu schwingen. Das müsste funktionieren, dachte sie.
Nachdem sie das Buch heruntergenommen hatte, schob Rebecca den Stuhl neben die Tür und stieg hinauf. Es gab hier einen größeren Spalt zwischen den obersten Steinen und den Dachbalken, und sie schob so leise und so weit wie möglich das Bein der Liege dort hinein. Dann versuchte sie, das Holzstück zu drehen. Sie hoffte, so ein paar Steine herauszustemmen, und tatsächlich fielen ein paar Brocken nach innen auf den gestampften Lehmboden. Sie begann
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