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Sommerfalle

Sommerfalle

Titel: Sommerfalle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Debra Chapoton
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an anderen Stellen in der Mauer zu stochern, doch alle anderen Steine waren fest mit Mörtel verbunden. Schließlich kletterte sie vom Stuhl und nahm zwei weitere Beine von der Liege. Die schob und drückte sie so weit sie konnte unter die Tür und dachte dabei: Ich kann hier vielleicht nicht rauskommen, aber zumindest kommst du auch nicht rein. Danach stieg sie wieder auf den Stuhl und stocherte weiter zwischen den Steinen herum.

    Die Wildblumen blühten in ihren schönsten Farben, und Edward katalogisierte im Geiste jede Spezies. In einem längst vergangenen Sommer hatte er sich ein Bestimmungsbuch für Wildblumen gekauft. Seine Cousins hatten sich über ihn lustig gemacht und es ihm immer wieder weggenommen, bis er irgendwann aufgab und es ihnen überließ. Danach erfand er eigene Namen für die Blumen. Waldlilien waren Großweiß, Frauenschuh nannte er Gelbkörbchen usw. Heute hatte er schon Kleinsternchen, Babyglöckchen und viele Rebecca-Augen gesehen.
    Edward nahm seine Umgebung immer sehr intensiv wahr; alle Geräusche, visuellen Eindrücke und Gerüche saugte er in sich auf. Er freute sich gerade über den süßen Duft einer Blüte und den Gesang einer Braunhalsnachtschwalbe, als ihn plötzlich etwas beunruhigte. Er stand völlig reglos und starrte auf einen Knoten in der Rinde eines Baumes direkt vor ihm. Konzentrier dich, ermahnte er sich selbst. Denk nach. Was irritiert dich?
    Etwas, das er hörte? Oder etwas, das er nicht hörte?

    »Du kannst das nicht, das brauchst du gar nicht erst zu versuchen«, verkündete Eddies Mutter.
    Eddie hatte sich an die neue Lehrerin in der dritten Klasse noch nicht gewöhnt. Sie war sehr streng und gab viele Hausaufgaben auf. Seine Mutter ließ ihn daher seine Schulsachen nach dem Abendessen auf dem Küchentisch ausbreiten, damit sie ihm dabei zusehen konnte. Nach der zweiten Schulwoche, als klar war, dass Eddie mit der Arbeit nicht zurechtkam, hatte die Lehrerin angerufen. Sie bat seine Mutter, die Hausaufgaben zu überwachen, und damals hörte Eddies Mutter noch auf die Lehrerin. Sie schämte sich und wollte beweisen, dass ihr Sohn absolut in der Lage wäre, den Anforderungen zu genügen.
    Eddie genoss die ungewohnte Aufmerksamkeit und zog die Hausaufgabenzeit so sehr in die Länge, wie es nur ging, oft bis es Zeit zum Schlafengehen war. Seine Mutter, die den ganzen Tag gearbeitet hatte, war müde und ungeduldig. Eddie schien rein gar nichts zu kapieren, und nach einigen Wochen begann sie zu glauben, ihr Sohn sei tatsächlich lernbehindert.
    Auch die Lehrerin war zu der Überzeugung gekommen, dass Eddie Hilfe brauche. Bei der Lehrerkonferenz empfahl sie, dass der Sozialdienst und die Schulpsychologin eingeschaltet würden. Doch Eddies Mutter ignorierte diesen Rat und verlangte stattdessen, dass er fortan vom Förderzentrum betreut würde.
    Als Eddie seine Mutter sagen hörte, er könne die Aufgaben nicht und solle es gar nicht erst versuchen, hörte er auf sie und nahm sie sich erst später wieder vor, als er wieder allein war. Noch war es ihm egal, dass seine Mutter ihn für dumm hielt; wenigstens verbrachte sie jetzt mehr Zeit mit ihm.

    Rebecca war erfolgreich gewesen. Sie meinte, ihren Körper nun durch die Öffnung, die sie herausgebrochen hatte, zwängen zu können. Doch zunächst stand sie an der Tür, lauschte und versuchte, sich Mut zu machen. Sie hatte eine Handfläche an die alte Holztür gelegt und spürte die weichen Stellen und rauen Kanten jedes Brettes. Sie presste ihr Ohr noch etwas fester gegen den Spalt zwischen Tür und Steinmauer. Das lauteste Geräusch, das sie vernahm, war ihr Herzschlag. Sie ließ von der Tür ab.
    Ich nehme die Schokoriegel mit, dachte sie. Und auch das Wasser, von dem sie vermutete, dass ihr Entführer es mit irgendetwas versetzt hatte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie es noch gebrauchen könnte. Sie kletterte wieder auf den Stuhl und warf alles durch die Öffnung nach draußen, dann drehte sie den Stuhl zur Wand, sodass sie über die Lehne noch ein Stück höher in Richtung Decke kam. Von dort zog sie sich hoch. Sie strampelte und schob, bis ihr rechter Fuß Halt an einem hervorstehenden Stein fand und es ihr gelang, sich bis zum Bauch durch die Öffnung zu schieben.
    Jetzt hatte sie ein Problem. Als sie halb drinnen, halb draußen hing, wurde ihr klar, dass sie ihre Waffe, das Holzbein der Liege, vergessen hatte. Zu spät, dachte sie, sie würde nicht noch einmal zurückklettern. Aber wie sollte sie jetzt überhaupt

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