Sommerfalle
Egal, wer es war, der unter den Tischen herumkroch, sie hatte Mitleid mit ihm.
Eddie weinte still vor sich hin, als jemand ihn am Ärmel zupfte und sagte, er solle aufstehen. Die Cafeteria war jetzt fast leer, nur diese andere Person kniete neben ihm, halb unter dem Tisch.
»Na komm, Eddie, gleich drängeln sich hier die nächsten dreihundert Schüler. Lass uns lieber verschwinden«, sagte Mike Sylver.
Eddie wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen, Mike half ihm auf die Beine und flüsterte ihm zu: »Du magst sie, stimmt’s?«
Eddie ließ sich nicht anmerken, ob er wusste, wovon Mike sprach. Mike lächelte schwach und sagte: »Ich mag sie auch, aber wir beide haben bei ihr keine Chance. Na, jetzt muss ich jedenfalls zum Unterricht. Noch mal zu spät kommen kann ich mir nicht leisten.«
Eddie konnte das. Er war bis jetzt noch nie zu spät gekommen. Er hatte auch noch nie einen Kurs geschwänzt. Heute wäre der ideale Tag dafür.
Eddie sagte einfach immer die falschen Dinge zum falschen Zeitpunkt. Er sprach jetzt überhaupt so wenig, dass es schon an ein Wunder grenzte, wenn er drei Worte aneinanderreihte. Seine Mutter kam wieder einmal betrunken nach Hause, schlug dem Jungen wegen einer Nichtigkeit mit ihrer Handtasche heftig aufs Ohr. Dabei traf ihn der Metallverschluss, sodass er blutete. Sofort tat es ihr leid.
»Mommy wollte dich nicht verletzen. Geht’s?«
Eddie begann zu weinen. Fünfte Klasse und immer noch heulen wie ein Baby. Aber das war ihm egal. Sie hatte ihn geschlagen und es tat weh.
Sie legte die Arme um ihn. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie ihn zuletzt umarmt hatte. Es fühlte sich gut an, und er wollte gerade seine Arme um sie schlingen, als sie ihm weiter Entschuldigungen ins Ohr raunte und er ihren Atem roch. Kein Pfefferminzduft. Sie lockerte ihre Umarmung und sah ihn an. Er hatte auf einen Schlag aufgehört zu weinen und schien wieder in Ordnung zu sein.
»Schlüpf in deinen Pyjama, dann komme ich noch mal und ziehe deine Decke fest. Okay?«
Sie torkelte in ihr Schlafzimmer, und Eddie beeilte sich mit seinem Schlafanzug. Zu Weihnachten hatte sie ihm einen einfarbig roten geschenkt. Den zog er jetzt an. Fenster und Türen musste er heute Abend nicht kontrollieren, Mom war ja früh heimgekommen.
»Ich bin fertig!«, rief Eddie von der Türschwelle seines Zimmers. Er sprang in sein Bett und warf die Decke zurück. Die lose herumfliegende Zudecke störte ihn heute nicht. Er legte sich hin und wartete. Und wartete.
Nach einer gefühlten Stunde stand er wieder auf und ging an die Tür ihres Zimmers. Höflich klopfte er an. Danach noch mal lauter. Schließlich machte er die Tür auf und rief nach seiner Mutter. Nach zwei zögernden Schritten sah er sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett liegen. Schlafend und schnarchend. Sie trug noch ihr Kleid und die Schuhe. Er tappte zurück, verließ das Zimmer und schloss die Tür.
In seinem eigenen Zimmer legte er sich hin und versuchte, die Decke selbst festzustopfen. Es gelang ihm nicht besonders gut, aber es würde gehen, bis sie aufwachte und nach ihm sah.
Dann sprach er sein übliches Gebet und drehte das Gesicht zur Wand.
In dem Holzhaus gab es kein Telefon, aber zumindest Elektrizität. Eine kleine Mikrowelle stand auf der Arbeitsplatte, außerdem war in der Küche noch eine elektrische Kochplatte und ein Mini-Kühlschrank. Den öffnete Rebecca jetzt und nahm eine Flasche Cola heraus. Beim Aufschrauben bemerkte sie die Schmutzspuren, die ihre Schuhe hinterlassen hatten. Sie nahm ein paar große Schlucke, dann wurde ihr bewusst, wie unwohl sie sich in ihren nassen Sachen fühlte.
Sie stellte die Flasche auf den Tisch, spähte zwischen den Vorhängen nach draußen. Immer noch kein Auto. Hurra. Sie zog ihre Schuhe aus und ging noch mal in das Schlafzimmer, in der Hoffnung, dort irgendwelche trockenen Klamotten zu finden. In einem kleinen Schrank gab es nur Männersachen: Flanellhemden, ein Sakko und einen dunkelblauen Jogginganzug. Alles war ihr viel zu groß, aber der Jogginganzug mit dem Gummibund wäre besser als nichts, solange ihre Kleider trockneten. Sie nahm ihn mit ins Bad und schloss hinter sich die Tür ab.
Ihr Spiegelbild in dem kleinen Badschränkchen erschreckte sie. Ihre Haare klebten verdreckt am Kopf. Das Make-up war um die Augen wild verschmiert. Die blauen Augen zusätzlich blutunterlaufen. Und die fiese Beule auf ihrer Stirn und Kratzer auf Wangen und Kinn sahen übel aus. Erschrocken sah sie auch
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