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Sommerfalle

Sommerfalle

Titel: Sommerfalle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Debra Chapoton
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sich darüber immer. Diese Kinder waren ihren Unterrichtsstil bereits gewohnt, und das half der ganzen Klasse in dem anspruchsvollen letzten Jahr. Sie konnte sich auf diese Schüler auch verlassen, wenn es darum ging, eine Diskussion anzuregen. Bei Eddie war das anders. Er war so schweigsam und scheu wie eh und je. Einzig die tagebuchartigen Aufsätze gaben ihm eine Möglichkeit, sich so auszudrücken, wie er das vor seinen Altersgenossen nicht gewagt hätte.
    Mrs. Randazzo machte sich im Nachhinein Vorwürfe, weil sie Eddie am ersten Schultag explizit in ihrem »anspruchsvollen« Englischkurs willkommen geheißen hatte. Hoffentlich hatte er das nicht falsch aufgefasst. Sie hatte dabei gar nicht an das Förderzentrum gedacht, sondern wollte damit den Unterschied zwischen Grund- und Leistungskurs unterstreichen. Eddie hatte ihr daraufhin ein schiefes Lächeln geschenkt, was, wie sie inzwischen wusste, bei ihm schon eine Form von sympathisierender Kommunikation darstellte.
    Wenn sie ihren Unterricht vorbereitete, hatte sie dabei immer einen konkreten Schüler im Hinterkopf. Es spielte keine Rolle, wer das war, es konnte der klügste oder trägste in der Klasse sein oder auch der Klassenkasper oder der Außenseiter. In diesem Jahr würde sie diesen Kurs für Eddie konzipieren. Wenn es ihr gelang, ihn zu erreichen, anzuregen und in gewisser Weise nachhaltig zu beeindrucken, dann hätte sie es automatisch auch beim Rest der Klasse geschafft.
    Die Aufsatzhefte wurden immer freitags eingesammelt, damit sie sie übers Wochenende korrigieren konnte. Drei der Arbeiten behandelten die aktuelle Lektüre; dazu stand jeden Tag ein Thema oder eine Frage an der Tafel. Im vierten Aufsatz galt es immer eine persönliche Frage zu beantworten oder ein Zitat oder Sprichwort zu kommentieren. Eddie schrieb immer über seinen verstorbenen Vater oder seine Freundin, die er »B« nannte. Mrs. Randazzo hatte ihn nie mit jemand gesehen, schon gar nicht mit einem Mädchen. Aber sie hatte den Kindern versprochen, die Tagebucheinträge vertraulich zu behandeln und nie etwas anzusprechen, das sie darin gelesen hatte. Sie notierte ihre Anmerkungen in der Randspalte: Fragen, Ansichten, Verbesserungsvorschläge und Lob. Ihr fiel es schwer, Eddies Arbeiten zu kommentieren. Sie war damit ganz einfach überfordert, er schien so massive Probleme zu haben.
    Einige der Schüler schienen Spaß daran gefunden zu haben, beim Interpretieren des englischen Sprichworts »A stitch in time saves nine« – ein Stich zur rechten Zeit spart viel Müh und Leid – ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen. Eddie dagegen bezog jedes Wort auf seine eigene Biografie. Die unnötigen »Stiche« waren für ihn die tödlichen Wunden seines Vaters. In quälenden Details schilderte er die Verletzungen, die zur Vernichtung geführt hatten. Dann rechnete er sich aus, dass der Pathologe mindestens fünfhundert tatsächliche Stiche getätigt haben musste, um den Schaden unsichtbar erscheinen zu lassen. Die »rechte Zeit« stellte für Eddie den Moment dar, wenn er und B diese Stadt verlassen und oben im Norden ein neues Leben beginnen würden. Das »Sparen« bezog er zusätzlich noch auf sein Vorhaben, seine Ersparnisse zu vermehren. Er wollte genug verdienen oder erben, um fünfhundert Morgen Land kaufen zu können. Und schließlich deutete er auch noch die Zahl Neun als Verweis auf die neun Leben einer Katze. Weil er wohl meinte, große Ähnlichkeit mit einer Katze zu haben, rechnete er sich ebenfalls neun Chancen bis zur erfolgreichen Ausführung seines Vorhabens aus.
    Was für ein seltsamer Junge, dachte Mrs. Randazzo. Sollte sie den Elternabend abwarten und seine Mutter darauf aufmerksam machen? Sie erinnerte sich an ihre Begegnung vor ein paar Jahren und war nicht gerade scharf darauf, sich erneut mit Mrs. Burling auseinanderzusetzen. Vielleicht wäre ein Hinweis an Eddies Vertrauenslehrer sinnvoller. Vertrauenslehrer hatten jeweils Verantwortung für ganze vierhundert Schüler zu tragen, aber wie viele von denen nahmen die Beratung schon in Anspruch? Also, welcher Lehrer war für die ersten Buchstaben des Alphabets zuständig?

    Immer noch auf dem Badezimmerboden kauernd konnte Rebecca hören, wie die Schritte sich endlich entfernten. Dann wurde eine Autotür zugeschlagen, und der Wagen fuhr im Rückwärtsgang vom Haus weg. Ihre Gebete waren erhört worden. Mit dem viel zu langen Ärmel des Sweatshirts wischte sie sich den Angstschweiß von der Stirn. Langsam fasste sie sich

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