Sommerfalle
einheimisches Mädchen aus der Mall unseres Ortes entführt wurde.
Auch Rebeccas Eltern waren benachrichtigt worden, aber sie befanden sich auf hoher See und würden erst in ein paar Tagen den nächsten Hafen erreichen, von dem aus sie zurückfliegen konnten.
In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte Josh erst alle Krankenhäuser abgeklappert, danach telefonierte er sie stündlich ab. Er stand auch im Kontakt mit der Polizei vor Ort und der Polizeibehörde von Michigan. Er fuhr alle Straßen ab und suchte in allen Parks. Er ließ die Autoscheiben herunter und rief im Fahren nach ihr wie der Besitzer eines entlaufenen Hundes.
Er hatte sich seitdem keinen Moment ausgeruht.
Wieder zu Hause war er ganz allein, seine Mutter arbeitete nachts. Also verfolgte er alle Nachrichten und wartete darauf, dass es an der Tür läutete oder das Telefon klingelte. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er untätig herumsaß, gleichzeitig fühlte er sich komplett erschöpft. Irgendwann schlief er im Sessel ein.
Edward saß in seinem Wagen an dem Ende der Zufahrt, wo sie auf den Weg mündete, und versuchte zu entscheiden, was als Nächstes zu tun wäre. Er war hungrig, das nächste Fastfood-Lokal lag nur fünf Meilen entfernt. Zehn Minuten hin, zehn zurück; sie würde ohnehin nicht versuchen zu fliehen. Ober er ihr wohl auch etwas mitbringen sollte? Nein, eher nicht. Vielleicht öffnete sie am Morgen ja freiwillig die Tür. Dann würde er ihr Frühstück bringen.
Er fuhr los und ging dabei noch einmal jedes Detail seines Plans der vergangenen vierundzwanzig Stunden durch. Er hatte sie seit April ständig beobachtet. Alles war bereit; es ging nur noch darum, den richtigen Moment abzupassen. Er hatte die Flasche mit dem Betäubungsmittel und die Einkaufstüte jedes Mal dabeigehabt, wenn er außer Haus ging. Eine nächtliche Entführung hätte er bevorzugt, aber als der Flur vor der Damentoilette unverhofft menschenleer war, ist er ihr aus einem spontanen Impuls heraus hinterhergeeilt und hatte sich dann in dem Toilettenraum auf sie gestürzt.
Rebecca fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Er stopfte die Flasche zurück in seine Jackentasche und zog aus seiner Einkaufstüte eine Maske sowie eine braune Perücke, die er über Rebeccas Kopf zog. Keine ihrer blonden Locken durfte mehr hervorgucken, es funktionierte, Haar und Stirn waren nicht mehr zu erkennen. Die Maske war die eines markanten Mannequingesichts mit großen Augen, sie deckte das komplette Gesicht von Stirn bis Hals ab. In der Tüte hatte er noch zwei Hilfsmittel: den Fuß einer Schaufensterpuppe und einen Kleidersack von Sears.
So gelangweilt wie möglich sah er sich um. Er hatte einstudiert, was er sagen wollte, falls zufällig jemand vorbeikam. Wenn einer seine Hilfe anbot, würde er antworten: »Nein, nein, danke. Die ist ziemlich leicht. Innen hohl, wissen Sie? Aber trotzdem danke.« Und falls jemand wissen wollte, wo er sie gekauft hätte, würde er erwidern: »Oh, die habe ich nicht gekauft. Ich verkaufe die Dinger. Ich bin ein Vertreter von mannequin.com. Kostet 5 000 Dollar, sind Sie interessiert?« Sein ganzes einsames Leben hindurch hatte er Menschen dabei beobachtet, wie sie sich verhielten, daher war er sich sicher, dass er sich durchaus normal benehmen konnte.
Zum Glück wollte keiner auf die Toilette in den langen drei Minuten, in denen er mit ihr beschäftigt war. Schließlich zog er noch sein eigenes Sweatshirt aus und stopfte es in die Einkaufstüte. Dann schob er Rebeccas Füße und Beine in den Kleidersack und zog diesen bis zu ihren Schultern hoch. Er legte ihre Arme hinein und kämpfte kurz damit, dass ihre Handtasche nicht wieder herausrutschte. Zuletzt lehnte er ihren Kopf an seine Schulter. Während er sie mit dem linken Arm hielt, stand er vorsichtig auf, fasste unter ihre Beine mit dem rechten Arm und hob sie so komplett hoch. Er strauchelte unter dem Gewicht, wünschte sich, stärker zu sein. Sein Plan war vollkommen irrsinnig, fiel ihm jetzt auf, aber es war zu spät. Als er einigermaßen sicher stand, nahm er noch den Fuß der Schaufensterpuppe in seine rechte Hand und hielt sie abwehrend vor sich. Es musste aussehen, als würde er eine kaputte Schneiderpuppe wegtragen. Zum Glück stärkte ihn das Adrenalin. Die Tüte, in der jetzt nur noch sein Sweatshirt steckte, stieß er vorläufig hinter den Mülleimer.
Auf dem Parkplatz ging er an ein paar Jugendlichen vorbei, »cool«, kommentierten sie seine Fracht. Ein älteres Paar würdigte
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