Sommerfalle
neunzig Meilen pro Stunde. So weit nördlich herrschte mitten am Nachmittag deutlich weniger Verkehr, also ging er davon aus, dass es auch weniger Polizeikontrollen gab.
Doch ein Officer von der Michigan State Police maß bei ihm eine Geschwindigkeit von zweiundneunzig und schaltete sein Blinklicht und die Sirene ein. Josh bremste zu scharf, verschätzte sich mit der Kurve und kam rechts von der Fahrbahn ab.
Becca vermochte nicht zur Ruhe zu kommen. Anspannung und Angst jagten durch ihren Körper. Gleichzeitig spürte sie immer stärker ihre Erschöpfung. Sie grübelte über ihren nächsten Schritt nach, während Ed das Essen zubereitete.
Ich will nicht essen, dachte sie, ich will hier weg.
Andererseits erinnerte sie der Duft daran, dass sie viel zu lange keine Nahrung mehr zu sich genommen hatte.
Ed war höflich und zurückhaltend und, wie sie bereits bemerkt hatte, ziemlich schüchtern. Er stellte Brot und Butter auf den Tisch und goss Wein in ihre Gläser. Er brachte die Lasagne herüber und füllte ihr eine große Portion auf, bevor er sich selbst nahm und die Form zurück in den Ofen stellte. Dann setzte er sich, legte sich die Serviette auf den Schoß und schien auf etwas zu warten.
»Du willst wahrscheinlich gar nichts essen«, sagte er schließlich.
Sie betrachtete den Teller. »Ehrlich gesagt: Ich bin am Verhungern.«
Ed strahlte und nickte ihr aufmunternd zu. »Dann du zuerst«, sagte er.
Rebecca nahm eine dampfende Portion und verspürte ein längst vergessenes Glücksgefühl. Mit jedem Bissen schöpfte sie neue Kraft. Sie aßen ein paar Minuten lang schweigend, bevor Rebecca sagte: »Ich kann mich nicht häufig genug dafür bedanken, dass du mich gerettet hast. Du willst sicher erfahren, wie ich da hinunter geraten bin.«
Ed schüttelte sanft den Kopf.
»Also, jemand hat mich verfolgt und wollte mir wehtun«, berichtete sie, obwohl er jegliche Neugier vermissen ließ.
Sie sah, wie er eine finstere Miene machte und ungläubig dreinsah. »Niemand würde dir wehtun«, sagte er schließlich und schüttelte wieder den Kopf. Sie dachte bei sich, dass er aussah wie ein unschuldiges Kind. Er erinnerte sie auch wieder an jemanden, aber sie kam nicht darauf, an wen. Grübelnd nahm sie einen Bissen von dem Brot und trank geistesabwesend ihr Glas in einem Zug aus, bis sie bemerkte, dass es Wein gewesen war.
»Doch, wirklich«, fuhr sie fort. »Ich wurde entführt, mit Handschellen gefesselt, gejagt, eingesperrt, gefangen gehalten, und dann habe ich mich auf der Flucht verirrt.« Ihre eigene Geschichte kam ihr selber in diesem Moment vollkommen aberwitzig vor. Sie begann laut zu lachen. Und lachte, ohne aufhören zu können.
Edward hatte noch nie jemand hysterisch werden sehen. Rebecca wechselte nun innerhalb eines Augenblicks vom Lachen ins Weinen. Er stand auf, kniete sich neben ihren Stuhl und legte die Arme um sie. »Nicht weinen«, sagte er sanft. »Weine nicht. Ist schon gut. Weine nicht.« Er streichelte ihren Rücken, wie er es bei seinen Kätzchen gemacht hatte.
Es war ihr nicht peinlich, an der Schulter eines Wildfremden zu weinen. Vielmehr war sie ihm dankbar für seine Fürsorge. So ein schmutziges und sicher übelriechendes Mädchen schien bei ihm keinerlei Widerwille auszulösen. Er war so nett und hilfsbereit. Ein Waise, so hatte er erzählt, dabei schien er so jung zu sein wie sie selbst.
»Tut mir leid«, stieß sie schniefend hervor. Mit der Serviette wischte sie sich die Augen trocken und schnäuzte sich.
Ed setzte sich zurück auf seinen Platz und aß weiter, als sei nichts geschehen. Sie stocherte in der großen Portion Lasagne herum und kaute dann lange an einem Stückchen Knoblauchbrot. Das Essen wärmte sie.
»Danke für das Abendessen«, sagte sie, während sie einen letzten Bissen nahm, die Hälfte ihrer Portion lag noch unberührt auf ihrem Teller. »Es war köstlich. Und es tut mir leid, dir solche Umstände zu machen. Aber … also, ich müsste wirklich dringend mit jemand sprechen.« Ed schenkte ihr ein halbes Lächeln und nickte zweimal.
»Komm mit«, Ed deutete ihr an, mit ins Wohnzimmer hinüberzugehen. Dort zeigte er auf einen mintgrünen Sessel am Fenster. Als sie protestierte, ihre Kleider wären zu schmutzig, um sich damit auf seinen schönen Sessel zu setzen, schob er sie entschlossen vorwärts. »Setz dich.« Sie sah fragend zu ihm auf. »Noch mehr Wein?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er wird dich wärmen. Und du brauchst Wärme.«
Sie konnte nicht klar
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