Sommerferien in Peking
unserem Haus eingepflanzt. Jedes Frühjahr wetteifern die neuen Bambussprossen miteinander, wer am höchsten wächst. Mittlerweile sind unsere Bambusse schon so hoch wie der Balkon. »So wie in China!«, sagt Mama immer zufrieden, wenn sie abends einen Blick darauf wirft.
»Was hast du da geschrieben?«, frage ich Lao Ye nach den Schriftzeichen auf dem Bild.
»Biegsam, wenn der Wind sie zwingt. Aber sie brechennie.« Lao Ye liest mir laut vor und legt dabei seinen Arm um meine Schultern.
»Lao Ye, ich liege bei uns zu Hause immer gerne in der Hängematte und schaue mir die neuen Zweige und Blätter von Mamas Bambus an. Sie wiegen sich im leichten Wind genauso schön wie auf deinem Bild ...«, berichte ich ihm und springe danach sofort auf. »Ich muss jetzt mit Mama telefonieren.«
Lao Ye bremst mich lachend: »Ungeduldig wie ein Tiger – hast du vergessen, dass es noch Nacht ist in Deutschland?«
Oh ja, ich habe nicht an den Zeitunterschied gedacht. Dann fällt mir ein, dass ich unbedingt noch Sophie anrufen wollte. Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen und ihr mein neues Outfit zu zeigen.
Mi Mi und Chinesisch
Am Telefon erkenne ich die Stimme von Sophies Ayi, ihrem Kindermädchen.
»Lisa, bist du es? Was für eine nette Überraschung!«, sagt Sophies Ayi gut gelaunt in den Hörer. »Sophie redet immer noch ganz viel von dir ... Was? Du bist in Peking? Sophie ist aber gerade mit ihren Eltern im Urlaub. Sie sind in ihre Heimat geflogen, nach...«, dann überlegt sie kurz, »Wu Er Mu ...«
»Was? Nach Ulm?« Ich kann meinen Ohren kaum trauen. »Das kann nicht sein. Ich habe ihr doch extra die Postkarte mit dem süßen Eisbären-Baby Knut geschickt!«
»Eine Postkarte mit Eisbären-Baby? Wir haben nichts bekommen ...«
Oh nein, die Postkarte ist bestimmt verloren gegangen. Wie dumm! Und was für eine Enttäuschung!
Ich kenne Sophie schon, seit meine Familie damals wegen Papas Arbeit von Deutschland nach Peking gezogen ist. Mama erzählt immer, dass ich am Anfang fürchterlich geweint habe, als ich in den Kindergarten der internationalen Schule kam, weil alle nur Englisch gesprochen haben. Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Aber ich weiß ganz genau, dass Sophie das erste Kind war, das mit mir geredet hat. Und zwar auf Deutsch! Noch schöner war es, dass Sophie in dem gleichen Viertel wohnte wie ich. Fast jeden Tag haben wir zusammen gespielt.
Als ich weggezogen bin, haben wir anfangs sehr viel telefoniert und uns E-Mails geschrieben. Aber nach einer Weile ist der Kontakt etwas eingeschlafen.
Mama tröstet mich später am Telefon: »Es ist wirklich schade. Aber du kannst ja mit Mi Mi spielen.« Weiß Mama nicht, dass Mi Mi erst fünf ist?! Was sie spielen möchte, ist doch kindisch. Meistens will sie nur nachmachen, was ich mache. »Dann sollst du einfach ein großes Vorbild für Mi Mi sein«, meint Mama. Oje!
Aber bevor ich mich langweiligen kann, hat Mi Mi mir ihren »Schatz« gezeigt: zehn niedliche Seidenraupen in einer Schachtel, die nur Maulbeerblätter fressen. Wenn sie ordentlich gefüttert werden, sagt Tante Bin, werden sie bald Seidenkokons bauen und daraus kann der Seidenraupenzüchter Seidenfäden herstellen. So wurde zum Beispiel meine schöne seidene Kleidung gemacht.
Maulbeerbäume wachsen eigentlich mehr in Südchina, aber mit Lao Yes Hilfe haben wir doch zwei gefunden.
Auf solch große Bäume zu klettern macht natürlich riesig Spaß. Ich muss Mi Mi nämlich helfen, die Maulbeerblätter von den Bäumen zu pflücken. Von dort oben kann ich auch die Kinder auf dem Fußballfeld gut sehen. Es sind die Jungen aus der Highschool, die neben unserem Compound liegt. Einmal höre ich sie laut jubeln: »Spy Kid! Spy Kid!« Ein Junge, der ein Tor geschossen hat, wirft vor Freude beide Arme in die Luft und wird von seinem Team auf die Schultern genommen und über den Platz getragen. Ein schneeweißer Schäferhund bellt laut und wirbelt mit wedelndem Schwanz um die Kinder herum. Das ist aber ein lustiger Spitzname, denke ich. Dann koste ich mit Mi Mi die saftigen Maulbeeren und wir müssen über unsere blauen Finger und Zungen laut lachen.
Oft kann Mi Mi aber nicht zum Blättersammeln mitkommen. Ich sitze dann lange allein hoch oben auf dem Baum und schaue einfach den Kindern auf dem Fußballplatz zu, während Mi Mi abends nach dem Kindergarten noch zum Unterricht geht. Viermal pro Woche: Mathematik, chinesischer Tanz, Klavier und Malen.
Ich interessiere mich auch für viele
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