Sommerferien in Peking
leise. Lao Ye hat auf dem Weg nach Hause kein einziges Wort mit mir geredet. Und jetzt malt er mit dem Pinsel schweigend auf einem großen Blatt Reispapier. Die Zornesfalten auf seiner Stirn zucken bedenklich.
Lao Ye hat mich nicht einmal richtig ausgeschimpft. Dafür liebe ich ihn so sehr. Aber es reicht auch schon, wenn er ein finsteres Gesicht macht, da wird selbst Mi Mi ganz ruhig. Wir haben nämlich großen Respekt vor Lao Ye, weil er schon so viel erlebt hat. Wegen seiner Forschungsprojekte hat er fast ganz China bereist – war in den eisigen Höhen des Himalaja in Tibet, im subtropischen Regenwald in Yunnan, in den unermesslichen Grasländern der Inneren Mongolei und auf dentropischen Inseln von Südchina. Einmal musste Lao Ye im Wald gegen zwei Wölfe kämpfen und das ist unsere Lieblingsgeschichte. Lao Lao erzählt Mi Mi und mir oft Geschichten von Lao Yes Abenteuern, bevor wir ins Bett gehen.
»Natürlich ist er nicht sauer auf dich, Lisa«, tröstet mich Lao Lao. »Lao Ye ist immer ein bisschen traurig, wenn er den verletzten Buddha sieht.«
»Warum?«
»Na ja, es erinnert ihn an die Kulturrevolution, und das war damals eine sehr schwierige Zeit in China«, seufzt Lao Lao jetzt auch. »Es war eine Zeit, in der ganz viele Buddhas und Tempel zerstört wurden. Und nicht nur Buddhas, auch ganz viele Kunstschätze. Bücher und Gemälde wurden verbrannt ...«
»Bücher und Gemälde? Wie schrecklich!« Mir stockt der Atem. Irgendwas sagt mir, dass Onkel Qian deshalb die schöne Kalligrafie verbrannt hat. Wie kann man Bücher und schöne Kunstgegenstände verbrennen?
Als wir von China nach Deutschland gezogen sind, hat Mama alle ihre Bücher mitgenommen. Die Wände in Mamas Arbeitszimmer sind von oben bis unten damit vollgestellt. Sogar über dem Türrahmen gibt es Bücherregale. Aber das ist noch lange nicht alles: Jede Woche schleppt Mama in einem großen Bambuskorb Berge von Büchern aus der Stadtbibliothek nach Hause und aus den Büchern liest sie uns jeden Abend vor dem Zubettgehen Geschichten vor. Wenn Ricky oder ich eine Buchseite zerknicken oder zerreißen, wird Mama richtig sauer. »Bücher haben eine Seele. Man darf Bücher nicht kaputt machen, auf keinen Fall!«, schimpft sie dann mit uns.
»Ja, Lisa, das war furchtbar! Das ganze Land wurde unterdrückt. Was für ein Glück, dass ihr nicht in so einer schrecklichen Zeit leben müsst.«
Lao Lao streicht mir eine Haarsträhne liebevoll hinters Ohr und sagt: »Schau doch mal, was Lao Ye malt. Er freut sich bestimmt. Jetzt hat er endlich Zeit, die chinesische Tuschmalerei zu üben. Als wir noch jung waren, waren wir so beschäftigt mit der Arbeit und der Revolution. Nach der Arbeit mussten wir noch an den Versammlungen der Kulturrevolution teilnehmen und Maos Reden auswendig lernen. Was für ein Quatsch! Deine Tante Bin haben wir oft mit deiner Mama alleine zu Hause lassen müssen. Was für eine Sünde! Eine Sünde!« Lao Lao schimpft gleich zweimal hintereinander.
Da ruft Lao Ye mich schon in sein Arbeitszimmer: »Lisa, komm mal herein. Ich will dir etwas zeigen.« Gut, er ist wirklich nicht sauer auf mich.
Lao Ye hat Bambus gemalt – in schwarz und weiß, und dann mit einem kleinen blutroten Stempel noch zwei Zeilen chinesische Schriftzeichen hinzugefügt. Als ich das Bild genauer betrachte, kommt es mir so vor, als ob sich der Bambus ganz leicht im Wind wiegen würde. Doch ich sehe nicht nur die elegante Bewegung des Bambusses, sondern fühle auch den Wind, der seine Blätter streichelt.
»Wow, wie hast du das gemalt, Lao Ye?«, frage ich verblüfft.
»Bevor man einen Bambus zeichnet, muss man ihn in sich wachsen lassen«, sagt Lao Ye absolut ernst.
Ich kenne diesen Bambus doch von irgendwoher, denke ich. Es ist der Bambus vor dem Tempel! Nein! Es ist der Bambus, den Mama neben unserer Terrasse gepflanzt hat! Ich kann mich einfach nicht entscheiden.
Bambus ist neben Büchern Mamas zweite große Leidenschaft. Als wir in unser Haus in Deutschland eingezogen sind, bestand der Garten nur aus einer großen Wiese. »Vielleicht holst du dir ein paar schöne Blumen?«, schlug Papa vor. Aber was hatte Mama im Baumarkt ausgesucht? Keine Rosen, keine Dahlien. Was Mama aus dem Van herauszerrte, das waren ... zwei große Bambusse!
»Was für ein Glück! Ich habe gar nicht erwartet, dass man in Deutschland auch Bambus kaufen kann«, lachte Mama atemlos. Papa und Mama haben dann gemeinsam die zwei großen Pflanzen in den Garten geschleppt und neben
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