Sommerferien in Peking
Überraschung wirft sich Herrn Qian auf die Knie und gibt die gerade fertig geschriebene Kalligrafie ins Feuer, eine Seite nach der anderen. Die züngelnden Flammen springen höher und höher. Sie fressen die wunderschönen Schriftzeichen einfach auf. Herrn Qians Augen funkeln nun – er wirkt sehr ernst. Auf seinem Gesicht liegt der rote Widerschein der Glut. Auch der Buddha schimmert im roten Feuerschein. Die Flammen spiegeln sich in seinen schmalen Augen und es sieht aus, als ob er weinen würde.
Sind die alle verrückt? Warum macht dieser Herr Qian das? Und warum schauen die anderen nur schweigend zu? Das müssen alles Gangster sein. Bei diesem Gedanken steht mir beinahe der Atem still.
»Was machst du hier?« Plötzlich steht Lao Ye hinter mir.
»Oh Gott, Lao Ye!«, rufe ich entsetzt und springe auf. »Du hast mich erschreckt!«
»DU hast MICH erschreckt«, wiederholt Lao Ye meinen Satz und betont jedes Wort dabei. »Wie kannst du einfachdavonlaufen? Ich habe dich überall gesucht! Jetzt gehen wir aber nach Hause.« Lao Ye wischt sich den Schweiß von der Stirn und setzt die Baseballkappe wieder auf.
»Aber wir müssen erst die bösen Kerle in dem Tempel stoppen. Sie haben Feuer gemacht und die schöne Kalligrafie abgebrannt!«
»Welche Kalligrafie?«, fragt Lao Ye verwirrt.
»Die, die der Herr zuvor geschrieben hat!«, schreie ich und merke, wie mir langsam Tränen in die Augen steigen.
Lao Ye sieht jetzt noch verwirrter aus.
Ach, wie soll ich Lao Ye nur alles so schnell erzählen? Da öffnet sich ächzend die vordere Tür des Tempels und heraus kommt verblüfft Herr Qian. Das graue Gewand hat er abgelegt. Stattdessen trägt er ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Hose. Als er Lao Ye sieht, verbeugt er sich leicht vor ihm. Er macht einen respektvollen Eindruck und sagt: »Guten Tag, Onkel Wang. Was machen Sie hier?«
»Warum macht ihr Feuer in dem Tempel und verbrennt die schöne Kalligrafie?«, zische ich zornig.
»Lisa, wie redest du mit Onkel Qian?« Lao Ye ist die Situation peinlich und er dreht sich zu Herrn Qian: »Das ist mein Enkelkind Lisa. Sie ist gestern aus Deutschland angereist.
»Lisa, das ist Onkel Qian – ein Künstler in Modern Art. Er hat auch ein Studio in New York.«
Ein Künstler? Ein Studio in New York? Ich mustere ihn skeptisch von oben bis unten und muss zugeben, dass erhier draußen in der Sonne eigentlich ziemlich normal aussieht. Er ist etwa so alt wie mein Papa und anscheinend kennt er meinen Lao Ye. Er hat jetzt wegen der Sonne auch eine coole Sonnenbrille aufgesetzt.
Onkel Qian lächelt mich an: »Lisa, komm rein. Ich zeige dir ein Kunstwerk von mir.«
Das Feuer ist schon erloschen. Der verbliebene Rest der Kalligrafie ist jetzt nur noch ein grauer Aschehaufen. Onkel Qian hebt die Asche vorsichtig auf. Er verstreut sie über einer schroffen Felsplatte und zwar so, dass sich kleine Aschehäufchen auftürmen. Er ist nun wieder sehr ernst und konzentriert. Als Onkel Qian damit fertig ist, macht einer der anderen Herren Fotos davon. Jetzt sehe ich auch eine Videokamera, die den ganzen Prozess aufgenommen hat.
Onkel Qian zeigt mir die Fotos in dem Display der Digitalkamera. Auf den Schwarz-Weiß-Fotos sieht die verstreute Asche wie eine wellige Bergkette vor einer steilen Felswand aus.
»Das ist ein trauriger Teil unserer chinesischen Geschichte. Aber ganz egal wie viele Herrscher es auch versuchten, die chinesische Kultur zu verbrennen, sie bleibt bestehen, so wie die unbeweglichen Berge – für immer und ewig!« Onkel Qian fügt hinzu: »Die Fotos und der Film werden in einem Museum in Berlin gezeigt – in einer Ausstellung über Moderne Kunst. Aber du hast ja alles schon durch das Fenster beobachtet.«
Ein toller Anfang, Lisa!, denke ich verärgert. Du hast einen Künstler mit einem Gangster verwechselt. Wie peinlich! Aber Mama sagt immer, der größte Fehler ist der, den man nicht korrigiert. Also schlucke ich zweimal und sage zu Onkel Qian: »Tut mir leid, Onkel Qian. Ich wollte nur nicht, dass du die schöne Kalligrafie verbrennst. Ich wusste nicht, dass es moderne Kunst ist.« Ich werde rot bis zu den Haarwurzeln. Aber Onkel Qian meint nur: »Das war genau die Reaktion, die ich mir von meinem Publikum wünsche. Danke, Lisa, für deinen Mut.«
Lao Ye steht die ganze Zeit sprachlos neben uns. Dann schüttelt er zum Abschied Onkel Qians Hand, stark und lang, und keiner von den beiden sagt noch etwas.
»Ist Lao Ye sauer auf mich?«, frage ich Lao Lao ganz
Weitere Kostenlose Bücher