Sommerferien in Peking
Dinge: Hip-Hop, Einrad fahren, Theater ... Mama meint, dass sich meine Interessen so schnell ändern wie das Wetter im April. Deswegen gibt es immer ein langes Gespräch mit Mama, wenn ich mit etwas anfangen oder aufhören möchte. Ich darf es nur dann, wenn ich sie davon überzeugen kann, dass ich es mir gut überlegt habe. Im Moment gehe ich in die Theater-AG und zum Schwimmen, weil mir beides wirklich Spaß macht.
Mi Mi sagt immer, dass ihr der zusätzliche Unterricht gefällt. Vielleicht mag sie ihn, weil sie dort ihre Freunde treffen kann.
Meistens holt Lao Ye Mi Mi vom Kindergarten ab und fährt sie gleich mit seinem alten, schwarzen Fahrrad zu den Übungsstunden, weil Tante Bin oft bis spät in den Abend hinein arbeitet. Ihr Handy klingelt sogar am Wochenende. Einmal nach dem Telefonieren strahlte sie uns begeistert an: »Unser Hotel bekommt vielleicht die Zusage für eine richtig große Veranstaltung. Für ein internationales Jazz-Festival.«
Mi Mi berichtet mir oft ganz stolz: »Es gibt viele ausländische Gäste in Mamas Hotel! Auch Gäste aus Deutschland!« Doch wenn Tante Bins Handy beim Essen klingelt, runzelt Lao Ye immer die Stirn.
Als Mi Mi einmal ihre Hausaufgaben macht, staune ich, wie super schnell sie mit einem Abakus bis 100 addieren und subtrahieren kann. Das lernen die deutschen Kinder doch erst in der Schule. Und beim Tanzen kann sie die Beine bis zu den Ohren heben! Ich habe ihr gleich beigebracht, wie man in beide Richtungen Rad schlagen und Handstand machen kann. Wir haben bei unserer Akrobatik-Show lauten Applaus von Lao Lao und Lao Ye bekommen.
Mi Mi kennt auch schon viel mehr chinesische Schriftzeichen als ich. Das beunruhigt mich etwas, denn ich habe Mama eigentlich versprochen, dass ich in Peking fleißig Chinesisch lerne ...
Als ich eines Tages mit Mi Mi, Lao Lao und Lao Ye unter einer Weide am Kunming-See sitze – wir machen gerade einen unserer zahlreichen Ausflüge –, muss ich wieder zerknirscht an mein Chinesisch denken. »Warum schreiben die Chinesen nur so kompliziert«, beschwere ich mich bei Lao Ye.
»Ist das wirklich so?«
Lao Ye blickt mich ruhig an und legt seinen Arm um meine Schultern. Ein frischer Wind weht über die vielen hübschen Lotosblüten im See hinweg, und der sich im Wasser spiegelnde Sommerpalast schwankt jetzt sanft auf den Wellen auf und ab.
Ich seufze: »Wie hat Mi Mi es nur geschafft, so viele Schriftzeichen zu lernen? Sie kam doch erst vor drei Jahren mit Tante Bin aus Amerika zurück.«
Meine Frage versetzt Mi Mi in einen Freudentaumel: »Das ist doch babyleicht! Schau mich mal an!«
Sie springt von der Bank herunter und spreizt die Beine weit auseinander. »Was ist das für ein Schriftzeichen?«
Ich schaue sie an und muss lachen. Sie sieht genauso aus wie das chinesische Schriftzeichen 人 . Das bedeutet »Person« oder »Mensch«.
»Ren?« frage ich.
»Richtig!«, ruft Mi Mi fröhlich und hebt jetzt beide Arme seitlich bis auf Schulterhöhe. »Und jetzt?«
Das sieht aus wie 大 . »Da!« Diesmal rufe ich es ganz laut.
»Richtig! Das heißt ›groß‹! Das hat Lao Ye mir gezeigt«, sagt Mi Mi ganz vergnügt und Lao Ye fügt noch hinzu: »Ich glaube, wir Chinesen haben in der alten Zeit einfach gemalt, was wir gesehen haben. Langsam wurden die Bilder immer einfacher. So entstanden die heutigen Schriftzeichen. ›Fliegen‹, schreibt man zum Beispiel so.«
Lao Ye schreibt 飞 mit einem Stock auf den Boden. »Und das sieht aus wie ein Vogel, der beide Flügel schwingt.«
»Aber es gibt so viele Schriftzeichen, die ich mir nicht mehr als Bilder merken kann«, seufze ich wieder.
»Das stimmt«, sagt Lao Lao, »aber auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Wenn du jeden Tag fünf Schriftzeichen lernst, kennst du am Ende der Ferien schon hundert.«
Dann zwinkert sie mir noch aufmunternd zu und meint: »Wenn ein neunjähriges Mädchen allein von Deutschland nach China fliegen kann, kann sie bestimmt auch Chinesisch lernen. Was sagst du dazu?«
Ich bin etwas verlegen und antworte ganz ehrlich: »Es war gar nicht so schwierig, wie man es sich vorstellt.«
Lao Lao fragt nach: »Aber bevor du es geschafft hast, hast du da keine Angst gehabt?«
Ich erröte und muss ihr zustimmen: »Natürlich, LaoLao. Ich habe große Angst gehabt. Und ich glaube, Mama auch.«
Lao Lao grinst. »Siehst du, mit dem Chinesischschreiben ist das ebenso. Aber das haben schon viele Millionen Kinder vor dir geschafft und du schaffst es
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