Sommerfest
seine ganze Konzentration erfordert. Er flucht ein bisschen zu lange und zu laut über den gar nicht so schlimmen Verkehr, wahrscheinlich um nicht daran denken zu müssen, dass er keine Frau hat, mit der er dicke Luft haben könnte. Toto und die Frauen, das war immer ein schwieriges Kapitel. Er fand einfach keinen Kontakt zu ihnen, oder nur zu solchen, mit denen er eigentlich nichts zu tun haben wollte, mit denen er sich dann aber doch abgab, um nicht wie der letzte frauenlose Idiot dazustehen. Dabei waren er und Diggo die ersten aus der Straße, die ihre Unschuld verloren, wenn auch unter wenig romantischen, eher erbärmlichen Umständen, auf einer löchrigen, verdreckten Matratze in einem baufälligen Schuppen auf einem verlassenen Bahngelände, beide mit demselben Mädchen, im Abstand von zwanzig Minuten. Stefan und Frank Tenholt lehnten seinerzeit das freundliche Angebot, dem Schauspiel beizuwohnen, dankend ab – im Gegensatz zu einigen anderen Jungs, die daraufhin Diggos und Totos Ruhm in der ganzen Gegend verbreiteten.
Toto fährt eine enge Straße entlang, in der auf beiden Seiten Autos parken. Ein Golf kommt ihnen entgegen, Toto hupt und blendet auf, damit der andere zurückweicht, was er auch tut und damit Totos Laune sichtlichhebt. Ein paar Meter weiter biegen sie in eine Einfahrt ein und rollen unter einem Schild mit dem Namen der Kleingartenanlage – KGV Sonnenschein – hindurch. Der Weg ist jetzt so schmal, dass die Hecken rechts und links an dem Kastenwagen entlangschrammen. Da könnte man ja glatt auf die Idee kommen, das für eine etwas bemühte Metapher zu halten, denkt Stefan, von wegen Enge des Weges gleich Enge in den Köpfen, praktisch Engstirnigkeit, aber das wäre schon ein bisschen albern, zumal Stefan es ohnehin nicht mit Metaphern hat.
Fast am Ende des Weges hält Toto an.
»Und wenn du hier rauswillst«, meint Stefan, »musst du den ganzen Weg rückwärtsfahren.«
»Ich bin nicht so doof, wie du aussiehst«, sagt Toto und grinst. »Ich fahr da vorne links, am Sportplatz vorbei und dann auf die Straße.« Toto freut sich, dass er schlauer ist, als Stefan meint. Er freut sich diebisch, hätte man früher wohl gesagt. Als man noch wusste, was »Feme« bedeutet.
Als Stefan aussteigt, hört er gleich, dass in dem Garten, vor dem sie angehalten haben, was los ist. Es läuft Musik, und es wird geredet. Toto drückt das niedrige, aber doch schwere, geschmiedete Tor auf, in das in geschwungenen Ziffern die Nummer der Parzelle eingearbeitet ist, und zwar die zweiundsechzig. Stefan versucht sich daran zu erinnern, welche Nummer der alte Garten seiner Eltern hatte, aber es fällt ihm nicht mehr ein.
Das letzte Mal war er hier in der Anlage zum Geburtstag seines damals schon nach einigen verpfuschten Herzoperationen samt Schlaganfall und Nahtod sehbehinderten Vaters. Es sollte der letzte Geburtstag seines Vaters sein. Stefan spürt eine Art Seelenkotze in sich aufsteigen. Er bedauert, nicht mit der Faust in irgendetwas schlagen zukönnen, am liebsten in die dreckige Fresse des Wichsers von Chirurgen, der seinen Vater umgebracht hat.
Die Terrasse vor der Laube wird durch eine zwei Meter hohe Hecke begrenzt, sodass vom Weg aus niemand Zeuge des Treibens dahinter werden kann. Auf weißen Stapelstühlen aus Plastik sitzen um einen ebenfalls weißen Plastik-Campingklapptisch vier Männer, denen man weder im Dunkeln noch im Hellen begegnen möchte. Zwei haben wabbelige Säuferbäuche, einer durchtrainierte Oberarme, die aus einem karierten Hemd mit abgeschnittenen Ärmeln herausragen. Über den Bäuchen breite Brüste, kein Hals und glänzende Schädel. Der Bodybuilder trägt die langen Haare zu einem Zopf gebunden, dazu Schnauzer, Kinnbart und Ohrring rechts.
Der vierte ist unübersehbar der Chef, Wort- und Anführer: Dirk »Diggo« Decker, Arschloch in vierter Generation. Toto und Diggo waren so etwas wie Herr und Hund, wie Jabba the Hutt und dieses Vieh, das auf ihm herumsprang. Unzähligen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hat Diggo die Fresse poliert, und Stefan kann sich an niemanden erinnern, vor dem er so viel Angst gehabt hätte, aber wenn er ehrlich ist, fühlte er sich als Kind und Jugendlicher von den beiden Gewaltmaschinen auch immer ein bisschen angezogen. Vielleicht weil er als Einzelkind gern einen großen Bruder gehabt hätte, der ihn vor der bösen Welt dort draußen beschützte. Ab einem bestimmten Alter ist es peinlich, nach Mama oder Papa zu rufen, aber mit dem großen
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