Sommerfest
dass er sich nicht mehr gekümmert, sich nicht noch mal mit Onkel Hermann über seine Eltern unterhalten hat und das ganze Gestern.
Das Grab seiner Eltern und seines Großvaters ist nicht weit entfernt. Einen Grabstein gibt es hier nicht, weil der einerseits wohl zu teuer gewesen wäre, andererseits die Mutter keinen haben wollte. Stefan erinnert sich daran, dass auch das Grab von Oppa Zöllner, zu dem sie früher an hohen Feiertagen stets pilgerten, steinlos ist, dafür aber von einer dunklen Umrandung eingefasst. Am Ende jedes Besuches, wenn sie mit dem Schweigen und dem Beten und dem An-den-Toten-Denken fertig waren, trat Stefans Vater zweimal leicht gegen diese Umrandung, um sich von seinem Vater zu verabschieden. Omma Zöllner übrigens hatte nicht nur keinen Grabstein gewünscht, sondern gleich gar kein Grab, das heißt, sie ließ sich anonym bestatten, unter einer dieser Freiflächen hier auf diesem Friedhof, was ihren Tod zu einer sehr merkwürdigen Sache machte, gab es doch keine Trauerfreier, keine Beerdigung und kein Hinterher-Kaffeetrinken mit Torte, das in ein Hinterher-Biertrinken mit Mettbrötchen überging, sondern nur ein bedrückendes Gespräch in der Küche der Zöllners. Gernehätte er Jahre später seinen Vater mal gefragt, wie das für ihn gewesen ist, die Mutter tot und keine Beerdigung, und warum sie das wohl so gewollt hatte, aber dann war die ganze Krebsscheiße dazwischengekommen und der Herzklappen-Dreck. Heute mündet das in Anfälle von Selbsthass, denkt Stefan, weil man unzählige dämliche Fragen in seinem Leben gestellt hat, aber viel zu wenig wichtige und richtige.
Jetzt steht er hier und stellt fest, dass das Grab, oder besser die Gruft, sehr gut gepflegt ist. Da steht eine Schale mit Blumen, und alles ist sauber geharkt, weil Omma Luise einen Friedhofsgärtner dafür bezahlt, obwohl es doch eigentlich, denkt Stefan, meine Aufgabe wäre, wenigstens diese Rechnungen zu bezahlen, die doch auch nicht so wahnsinnig hoch sein können, aber wenn man sich nicht interessiert und nicht kümmert, dann steht man eben manchmal da wie der letzte Idiot und fragt sich, wie man jetzt aus diesem Gedanken- und Gefühlsknäuel wieder herauskommt.
Seine Eltern waren sehr jung, als sie sich über den Weg liefen, in einer traditionsreichen Tanzschule, und sie waren immer noch jung, als Stefan auf die Welt kam, ja sie waren auch noch jung, als seine Mutter diese Fehlgeburt hatte, nach der sie keine Kinder mehr bekommen konnte, weshalb Stefan als Einzelkind aufwuchs, was er damals prima fand, weil es die Beute an Geburtstagen und zu Weihnachten deutlich erhöhte. Später litt er darunter, niemanden zu haben, der beim Tod der Eltern das Gleiche verloren hatte, denn da endete das geschwisterähnliche Verhältnis zu Charlie dann doch. Sie war für ihn da, hielt ihn fest und ertrug ihn, und im Angesicht des hässlichstmöglichen Korkenziehers ging sie sogar noch einpaar Schritte weiter, aber sie hatte eben ihre Eltern noch und hat sie bis heute.
Manchmal fragt er sich, ob es Leute, die ein mieses Verhältnis zu ihren Eltern haben oder hatten, leichter haben, aber wahrscheinlich nicht, die arbeiten sich genauso daran ab, man schleppt sie eben mit sich herum, die Eltern, ob man will oder nicht.
Ihm gehen ein paar Bilder durch den Kopf, die Mutter am Küchentisch, einen Heftroman der »Bianca«-Reihe lesend, der Vater in einem Liegestuhl im Schrebergarten, mit freiem Oberkörper, die Narbe der Magen- OP deutlich sichtbar; der Vater angetrunken auf der Nachtspeicherheizung tanzend und dazu lief »Griechischer Wein«, weshalb der kleine Stefan nicht schlafen konnte und ins Wohnzimmer kam, wo kräftig gefeiert wurde; beide zusammen auf der Terrasse eines Hotels in Lloret de Mar, wo sie eigentlich gar nicht hingewollt hatten, sondern nach Marbella, wo aber etwas mit der Hotelbuchung schiefgelaufen war, sodass man sie in dieses Fünf-Sterne-Hotel verfrachtet hatte, in dessen Pool Stefan schwimmen lernte und wo er von einem freundlichen Engländer beigebracht bekam, wie man auf Englisch bis hundert zählte. Ohne dass sie es wussten, war das ihr letzter Urlaub für fast zwanzig Jahre, weil sich der Vater dann selbstständig machte, anstatt den Job bei der Stadtverwaltung anzunehmen, den Omma Luise ihm vermittelt hatte. Einmal falsch abgebogen und dafür ewig und drei Tage auf die Fresse gekriegt. Wäre er bei der Stadt gelandet, würde er noch leben, weil ein geplatztes Magengeschwür und eine halb verpfuschte
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