Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommerfest

Sommerfest

Titel: Sommerfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
Vom Netzwerk:
eigentlich Bechertassen den Vorzug gibt bei schwarzem Frühstückskaffee. Eine solche ist auch vorhanden, in den Farben Schwarz-Rot-Gold. Die hat Onkel Hermann zur letzten Weltmeisterschaft geschenkt bekommen, aber Stefan ist jetzt in der Stimmung, etwas in der Hand zu halten, das auch sein Vater und seine Mutter Millionen Male berührt haben. Er stellt sich vor, wie seineMutter im Winter vielleicht die Hände um die mit heißem Kaffee gefüllte Tasse gelegt hat, um sich zu wärmen. Dann geht er wieder rüber ins Wohnzimmer, an der Schrankwand entlang und inspiziert die wenigen, zum Teil sehr alten Bücher, die dort stehen, und sein Blick bleibt an einem hängen, das recht neu aussieht. Es ist ein Fotoband mit alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Ruhrgebiet, und in Stefan graben sich Erinnerungen durch die Gedächtnis-Schlacke der Jahrzehnte, Erinnerungen an Schornsteine, deren Rauch vom Wind abgetrieben wird wie ein langer, dicker Zopf, an Kühltürme und Männer mit Hüten, fegende Frauen vor niedrigen Backsteinhäusern, Kopfsteinpflaster und Mülltonnen aus Metall, mit einem Knubbel auf dem Deckel, der dem Müllmann erlaubt, das Ding drehend fortzubewegen.
    Stefan blättert das Buch durch und bleibt ganz hinten an einer bestimmten Seite hängen. Da ist nämlich ein Bild mit der Unterzeile »Sonntagsidylle an der Ruhr bei Bochum, Mitte der Fünfzigerjahre«. Man sieht eine Gruppe von Leuten im Gras sitzen, im Vordergrund ein Motorrad, im Hintergrund die Ruhr, wahrscheinlich in der Nähe des Wasserschlosses Kemnade, der Fluss noch nicht zum Naherholungsgebiets-See aufgestaut, die jungen Leute mit den Frisuren und Kleidern der Fünfziger, wie aus einem Film. Stefan muss sich setzen, weil ihm die Knie weich werden, was jetzt nicht an der letzten Nacht liegt, sondern daran, dass er die Menschen auf dem Bild alle kennt. Da sind Tante Edith und Onkel Hermann, sein bester Kumpel Wolfgang Mehls mit seiner Frau Lieselotte, Omma Luise und Oppa Fritz, der Masurische Hammer Willy Abromeit, der auch im Sitzen alle überragte, seine Frau Paula, geborene Mehls, die Schwester von Wolfgang und die beste Freundin von Omma Luise. Außerdem spielen da zwei Kinder im hohen Gras, das eine ist Manfred Abromeit, Charlies Vater, und das Mädchen daneben niemand anderes als Marianne Borchardt, Stefans Mutter. Alle lachen in die Kamera, denken ein paar Stunden nicht an unerfüllte Liebe, und das kleine Mädchen, das angeblich schon mit acht Monaten laufen und laut Omma Luise »aufrecht unterm Tisch« durchspazieren konnte, hat das Wort »Speiseröhrenkrebs« noch nicht einmal gehört.
    Das ist jetzt alles ein bisschen zu viel, denkt Stefan und stellt die Kaffeetasse ab, damit sie ihm nicht runterfällt, denn jetzt muss er heulen, jedenfalls ein paar Minuten. Dann trinkt er den Kaffee aus und macht sich auf den Weg, das Fotobuch unterm Arm.
    Er braucht nur knapp eine halbe Stunde bis zum Friedhof, was einem mal wieder beweist, dass man viel zu oft ein Auto benutzt. Nicht mal Bus und Bahn bräuchte man ständig, man kann doch viel mehr zu Fuß erledigen, als man so glaubt, was besser für die Umwelt wäre und natürlich auch für die eigene Gesundheit, auch die geistige, weil man schon ein bisschen zum Nachdenken kommt, wenn man so durch die Straßen läuft, vor allem am Sonntag, weil da weniger los ist, der Lärmpegel etwas geringer und alles weniger hektisch, also letztlich menschlicher.
    Auf der Brücke am Lohring bleibt er stehen, blickt auf die drittklassige Skyline seiner Heimatstadt und ruft Anka an, obwohl er nicht weiß, wieso er das tut, höchstens ahnt er, dass es mit dem zu tun hat, was letzte Nacht in der Abromeit’schen Laube passiert ist, aber das will er sich gar nicht ausmalen, also weder, was da geschehen ist, noch, aus welchem Grund ein Teil von ihm mit Anka sprechen möchte, während der andere raunzt, du hast doch wohl einRad ab. Es klingelt elend lange, aber sie geht nicht ran, es meldet sich auch nicht die Mailbox, und Stefan stellt sich vor, sie sitzt da und starrt auf das Display und ist wütend auf ihn, und als das Klingeln endlich aufhört, ist sie wahrscheinlich stolz, dass sie nicht rangegangen ist.
    Um sich auf das Thema Friedhof quasi einzustimmen, geht er erst mal zu Onkel Hermanns Grab, dessen Lage ihm Omma Luise gestern beschrieben hat. Es ist noch ganz frisch. Ein einfaches, kleines Holzkreuz steckt im Erdhügel. In Gedanken bedankt er sich bei Onkel Hermann, dass er auf das Haus aufgepasst hat, und bereut,

Weitere Kostenlose Bücher