Sommerflammen
nächsten, von einer Pflicht, von einer Rechnung zur nächsten. Ich habe mein Kind verloren, meinen Mann, meinen Glauben. Und jetzt werde ich auch noch mein Haus und meine Enkelin verlieren.«
»Ich habe gelebt wie ein Tier«, hob er an, verstummte dann aber und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Was redest du da? Die dürfen uns Shiloh nicht wegnehmen.«
»Ich weiß nicht, ob sie das dürfen. Ich weiß nur, dass ich sie nicht allein großziehen kann. Nicht ohne ein richtiges Zuhause, ohne genug Zeit, mich um sie zu kümmern. Morgen kommen die Brayners und nehmen sie mit nach Nebraska.«
»Nein.« Das Gesicht des Fremden loderte vor Zorn. »Nein, Irene, du wirst mir verdammt noch mal zuhören.«
»Red nicht in diesem Ton mit mir«, sagte sie scharf. So scharf, dass er zusammenzuckte. »Ich tue, was für das Baby das Beste ist, Leo. Du hast da kein Wort mitzureden. Du hast uns im Stich gelassen.«
»Du machst das nur, um mich zu bestrafen.«
Sie lehnte sich zurück. Komisch, dachte sie. Auf einmal fühlte sie sich gar nicht mehr so müde, so erschöpft und traurig. Seit Dollys Tod hatte sie sich nicht mehr so stark, so entschlossen und so klar im Kopf gefühlt.
»Ich soll dich bestrafen? Schau dich doch an, Leo! Selbst wenn ich dich bestrafen wollte, was nicht der Fall ist, hast du dich selbst schon genug bestraft. Du sagst, du hättest gelebt wie ein Tier - das war deine Entscheidung.«
»Ich habe es deinetwegen getan.«
»Vielleicht glaubst du das tatsächlich. Vielleicht kannst du gar nicht anders, und das ist mir egal. Ein unschuldiges Baby ist in die Sache verwickelt, und um das geht es hier. Zum ersten Mal in meinem Leben nehme ich mich wichtiger als dich, Leo. Wichtiger als alles andere.« In ihr gärte es. Das war aber keine Wut, dachte sie. Sie war es leid, wütend und verzweifelt zu sein. Vielleicht war es der Glaube - ihr Glaube an sich selbst.
»Ich werde tun, was ich für richtig halte. Ich muss nachdenken, aber wahrscheinlich werde ich wegziehen, um näher bei Shiloh zu sein. Nach diesem Gespräch nehme ich alles mit, was mir zusteht, und lasse dir deinen Teil.«
Er zuckte zurück, als hätte sie ihn geschlagen. »Du verlässt mich? Einfach so, wo ich im Gefängnis sitze und deinen Beistand brauche?«
»Was du brauchst«, sagte sie kopfschüttelnd, »ist nicht mehr wichtig. Daran wirst du dich leider gewöhnen müssen. Zuerst kommt Shiloh und dann ich. Ich habe zu dir gehalten, Leo, habe dir beigestanden. Aber als sich gezeigt hat, dass du in der Stunde der Not nicht zu mir stehst, war es damit vorbei.«
»Hör mir gut zu, Irene, hör mir zu! Jemand hat dieses Gewehr, diese Pistole gestohlen, aus meinem Haus gestohlen. Um mich fertigzumachen.«
»Ich kann nur hoffen, dass das wahr ist. Aber du und Dolly - ihr habt unser Haus in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Und keiner von euch beiden hat sich bemüht, diesen Krieg mir zuliebe zu beenden. Dolly ist einfach verschwunden, und als wir sie wieder aufgenommen haben, weil wir ihre Eltern sind, hat sie uns weiterhin belogen und betrogen. Und ihr seid aufeinander losgegangen, während ich zwischen euch beiden stand.«
So wahr mir Gott helfe, dachte Irene. Ich werde für den Rest meines Lebens um mein Kind trauern, nicht aber um diesen Kleinkrieg.
»Dolly ist tot, und ich bin vom Glauben abgefallen. So sehr, dass ich keinen Trost mehr in Gott finde. Du hast mich im Stich gelassen, als ich dich am dringendsten gebraucht habe. Ich weiß nicht, was du verbrochen hast oder nicht. Ich weiß nur, dass ich mich in der Stunde der Not nicht auf dich verlassen kann. Also muss ich mich auf mich selbst verlassen, und das wurde auch höchste Zeit.« Sie stand auf. »Du solltest deinen Anwalt anrufen. Den brauchst du jetzt wirklich.«
»Ich weiß, du bist außer dir, bist wütend auf mich. Wahrscheinlich mit Recht. Aber bitte lass mich nicht allein, Irene, ich flehe dich an.«
Sie versuchte ein letztes Mal, so etwas wie Liebe für ihn zu empfinden oder wenigstens Mitleid. Vergebens.
»Ich komme wieder, sobald ich kann, und bringe dir, was ich dir bringen darf. Aber nun muss ich in die Arbeit. Ich kann es mir nicht leisten, mir länger freizunehmen. Falls ich jemals wieder die Kraft zum Beten finde, werde ich für dich beten.«
L. B. passte Matt ab, der gerade vom Laufen zurückkam.
»Bist du mit dem Training für heute fertig?«
»Ja, ich wollte gerade duschen und etwas frühstücken gehen. Kann ich etwas für dich tun?«
»Wir könnten
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