Sommerflammen
nach. Ich wünschte, du wärst da. Ende.«
»Roger. Schön, deine Stimme zu hören! Du sollst gestern ganz schön Arger gehabt haben. Ende.«
»Nichts, was wir nicht mit ein paar Kaugummis und Isolierband reparieren konnten. Wir haben den Feuerdrachen gestern ganz schön geschwächt.« Sie sah zu, wie sich Wolken über dem Nationalpark bildeten. Rauch stieg von den grünen Inseln auf. Warte nur, bis wir kommen, dachte sie. »Heute machen wir den Feuerdrachen fertig. Ende.«
»Roger, Ro. Es gibt etwas, das du wissen solltest«, hob ihr Vater an und erzählte ihr von Leo.
Gleich nach dem Gespräch ging Rowan zu Gull und setzte sich. »Was für eine Aussicht«, bemerkte er. »Libby ist ganz hin und weg davon. Sie will umziehen, uns im Stich lassen und sich dem Alaska-Team anschließen.«
»Alle Leute sind wie hypnotisiert von diesem Berg. Gull, Leo hat sich heute Morgen gestellt. Er ist in Haft.«
Gull musterte sie und trank noch mehr Kaffee. »Was für ein wunderbarer Tag!«
»Allerdings.« Sie atmete erleichtert auf. »Allerdings. Sorgen wir dafür, dass er noch wunderbarer wird, und schlagen wir dem Feuerdrachen den Kopf ab.«
»Machen wir«, erwiderte Gull, beugte sich vor und küsste sie.
Irene war tief erschüttert, als sie den Raum betrat und sah, dass Leo mit Handschellen an den Tisch gefesselt war. Er hatte abgenommen, sein verstrubbeltes, ausgedünntes Haar reichte über den Kragen des orangen Gefängnisoveralls. Er hatte sich eine Ewigkeit nicht mehr rasiert, und der Bart war irritierend grau in seinem eingefallenen Gesicht.
Er sah wild aus. Wie ein Verbrecher. Wie ein Fremder.
War es wirklich erst einen Monat her, dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte?
»Irene.« Seine Stimme brach, als er ihren Namen sagte, und die Handschellen rasselten obszön in ihren Ohren, als er ihre Hand nehmen wollte.
Sie musste kurz wegsehen, sich zusammenreißen. Die Luft kam ihr stickig vor, die Beleuchtung zu grell. Sie sah sich im großen Spiegel. Ein Detektivspiegel, dachte sie. Sie verfolgte die Gerichtsserie Law & Order im Fernsehen, wusste also, wie so etwas funktionierte.
Aber ihr Spiegelbild verblüffte sie. Wer war diese Frau? Diese alte, knochige Frau mit dem strähnigen, straff aus dem verhärmten Gesicht gekämmten Haar?
Das bin ich, dachte sie. Auch ich bin eine Fremde. Wir sind nicht mehr die Alten. Wir sind nicht mehr so wie früher.
Wurden sie durch den Spiegel beobachtet? Bestimmt. Sie wurden beobachtet, beurteilt, verurteilt. Wie wenig Stolz mir geblieben ist, dachte sie, erstickte diesen Gedanken jedoch noch im Keim. Sie straffte die Schultern, hob das Kinn und sah ihrem Mann in die Augen. Sie ging zum Tisch, setzte sich, weigerte sich aber, seine ausgestreckte Hand zu ergreifen.
»Du hast mich im Stich gelassen.«
»Es tut mir leid. Ich dachte, das wäre besser für dich. Man wollte mich verhaften, Irene. Wegen Mordes. Ich dachte, du bist ohne mich besser dran. Wäre der wahre Mörder erst einmal gefasst, wollte ich zurückkehren.«
»Wo warst du?«
»In den Bergen. Ich war ständig unterwegs. Ich hatte das Radio dabei, um zu hören, ob schon jemand verhaftet worden ist. Aber dem war nicht so. Irgendjemand hat mir das eingebrockt, Reenie.«
»Dir? Dir, Leo? Ich habe für dich gebürgt, mit unserem Haus für deine Kaution gebürgt. Du hast mich im Stich gelassen. Und nun werde ich mein Zuhause verlieren, weil ich es trotz meiner zwei Jobs nicht schaffe, die Schulden zu bezahlen.«
Schmerz, aufrichtiger Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Daran habe ich erst gedacht, als ich schon weg war. Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich dachte nur, dass es für dich und das Baby besser ist, wenn ich gehe. Ich habe nicht damit gerechnet, dass …«
»Dass ich allein zurückbleibe, ohne zu wissen, wo mein Mann steckt? Ohne zu wissen, ob er überhaupt noch lebt oder schon tot ist? Dass ich mich um ein Baby kümmern, Rechnungen bezahlen, Fragen beantworten muss - und all das kurz nach der Beerdigung meiner Tochter?«
»Unsere Tochter, Reenie.« Das Gesicht unter dem Bart rötete sich, als er mit der Faust auf den Tisch schlug. »Die denken, dass ich meine eigene Tochter ermordet habe. Dass ich ihr das Genick gebrochen und sie angezündet habe wie Müll in einer Tonne. Glaubst du das auch? Sag, glaubst du das auch?«
»Ich glaube gar nichts mehr, Leo.« Sie hörte ihre eigene Stimme, die genauso kraftlos war wie ihr Haar, so ausdruckslos wie ihr Gesicht. »Ich lebe von einem Tag auf den
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