Sommerflimmern (German Edition)
entgegen.
»Frollein Buchbinder, ich habe etwas für Sie.«
»Hallo, Frau Zastrow. Für mich?«
Anna bleibt stehen, sieht die ältere Dame überrascht an.
»Na ja, nicht wirklich für Sie, für ein Frollein Wolf. Ist das richtig, die ist bei Ihnen zu Besuch?«
»Ich bin Frau Wolf«, sage ich.
»Na, dann kommen ‘Se mal mit. Steht alles oben in meiner Wohnung.«
Anna und ich schauen uns verwundert an und folgen Frau Zastrow in den vierten Stock. Sie wohnt links von Annas Wohnung.
Sie öffnet die Tür, verschwindet kurz und kommt mit zwei großen Reisetaschen zurück.
»Das ist es«, sagt sie und stellt mir die Taschen vor meine Füße.
Ich erkenne sie sofort.
»Vielen Dank!«
Wortlos tragen Anna und ich die Taschen in Annas Wohnung. Bevor ich die erste öffne, schaue ich Anna ängstlich an. Sie sieht auch nicht gerade zuversichtlich aus. Ich ziehe langsam den Reißverschluss auf, doch ich werde von der schrillen Türklingel unterbrochen. Wir zucken beide zusammen. Anna öffnet die Tür und ich höre Frau Zastrows Stimme.
»Habe ich noch vergessen, geben ‘Se das bitte Ihrer Freundin, meine Liebe.«
Als Anna zurückkommt reicht sie mir einen Briefumschlag aus dickem, cremefarbenem Papier.
»Für dich.«
Auf dem Umschlag steht mein Name, nichts weiter.Doch die Handschrift meiner Mutter ist mir vertraut. Sie schreibt, dass sie mir Kleidung und Kosmetiksachen eingepackt hat und dass sich in einer der Taschen meine Börse, mein Handy und die Hausschlüssel befinden. Der Brief meiner Mutter beruhigt mich. ›Ich denke an dich und bin immer für dich da, mein Schatz.‹
Nachdem ich das Portemonnaie mit meiner Kreditkarte gefunden habe, halte ich sie Anna entgegen.
»Was meinst du, darf ich dich heute Abend zum Dinner ausführen?«
Anna strahlt. »Und ob, Schätzchen, und ob!«
Sie spurtet ins Wohnzimmer und dreht die Anlage auf. Ich denke kurz an Frau Zastrow, doch entschließe ich mich schnell, ihr eine ausgemachte Schwerhörigkeit zu unterstellen.
Während ich noch in meinen Sachen wühle, rennt Anna an mir vorbei in die Küche und kommt mit zwei Gläsern Prosecco zurück.
»Los, jetzt wird gefeiert. Wir haben das Abi, wir sind 18, wir haben Ferien und verdammt – wir wohnen sogar gerade zusammen! Auf, auf, Charlie!«
Ich zögere, bevor ich eines der Gläser nehme. Doch nur kurz.
»Cheers, Schätzchen!«, prostet Anna mir zu.
»Selber Schätzchen!«, sage ich lachend und das Klirren unserer Gläser geht in der Musik fast unter. Ich folge Anna ins Wohnzimmer, sie stellt unsere Gläser auf die Anlage,nimmt mich bei den Händen und beginnt, wild herumzuspringen. Ich mache mich von ihr los, ziehe mir die Espandrillos aus und hüpfe und tanze mit Anna durch das Wohnzimmer. Liebe Frau Zastrow, seien Sie bitte taub.
Ich bin schon halb außer Atem, als ich Anna nach der Musik frage, ohne meinen wilden Tanz zu unterbrechen.
»Was ist das überhaupt?«
» Best Coast! Perfekt für den Sommer!«
Annas Stimme übertönt sogar das Rumpeln der Tram, während sie mitsingt.
»I want to hate you, but then I kiss you, I want to kill you, but then I miss you … Uhuuhuhuuuhu…«
M it jedem weiteren Tag, den ich bei Anna bin, fühle ich mich gelöster und entspannter. Manchmal kann ich mit ihrem Tempo nicht mithalten, dann geht sie noch aus und ich bleibe zu Hause, mache es mir gemütlich und lese in Annas Ausgabe von Madame Bovary . Ich habe das Buch zwar schon einmal gelesen, aber irgendwie gefällt es mir diesmal noch besser.
Nach einem dieser Abende sitzen Anna und ich am Frühstückstisch. Anna sieht mich aus verschlafenen Augen an, auf einem ihrer Handrücken klebt noch der Stempel des Konzerts von letzter Nacht.
»Ich glaube, heute werde ich mal was für die Uni tun. Ich möchte nicht nach London fahren und dann alles vergessen haben, was ich über das Zeichnen gelernt habe.«
»Echt? Was willst du denn machen?«
»Ich werde rausgehen und zeichnen, es ist so schön draußen … Ich glaube, ich gehe zur Museumsinsel und suche mir dort ein passendes Motiv.«
W enig später sitze ich auf einer der niedrigen Mauern des Lustgartens, vor dem Alten Museum und dem Berliner Dom. Ich überlege hin und her, welches der beiden Gebäude ich nun zeichnen soll. Die klaren Formen des Klassizismus oder den üppigen Prunk des Barock? Ich entscheide mich für Schinkel und postiere mich frontal vor dem Alten Museum. Mit dem Zeichenblock auf dem Schoß beginne ich die ersten Konturen. Doch irgendetwas stört. Ich
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