Sommerflimmern (German Edition)
fange noch mal von vorne an. Und wieder. Und noch mal. Schnell liegt neben meinen Füßen ein Haufen zerknüllter Papierkugeln. So ein Mist. Ich halte inne und betrachte das Gebäude. Die Säulen, das Dach, die Inschrift. Es ist wunderschön. Erhaben. Ohne überflüssigen Schnickschnack. Dann blicke ich auf meine Zeichnung, aber nichts von dem, was ich sehe, wirkt auch nur halb so beeindruckend. Ich blicke auf, wieder zurück auf die Zeichnung, wieder auf. Zerknülle mehr Papier.
Ich frage mich, ob ich überhaupt noch einen weiteren Versuch wagen soll oder ob es heute keinen Sinn hat und ich lieber zu Anna nach Hause gehe. Nach einem letzten Blick auf mein Wunschmotiv entscheide ich mich zu gehen. Ich sammle die Papierbälle zu meinen Füßen auf,staple sie allesamt auf meinen Armen und halte Ausschau nach einem Mülleimer.
»Vielleicht solltest du die Perspektive ändern.«
Ich zucke zusammen und die Papierbälle fliegen in alle Richtungen.
Neben mir steht jemand, den ich nicht erkennen kann, da er direkt unter der Sonne steht. Ich blinzle mit den Augen, halte mir die Hand darüber, als der Unbekannte plötzlich in die Knie geht und damit beginnt, die Papierbälle aufzusammeln.
Das Erste, was mir an ihm auffällt, sind seine dunklen, glatten Haare, die in der Sonne glänzen wie ein frisch poliertes Ebenholzklavier. Als er zu mir hochschaut, sehe ich, dass er einen Teil des Scheitels länger trägt. Eine Strähne fällt ihm über das rechte Auge, er streicht sie mit der linken Hand nach hinten und hält mit der rechten irgendetwas fest. Dabei sieht er mich merkwürdig fragend an, die Sonne scheint ihm schräg in die Augen. Dadurch wirken sie, als würden sich in seinem Kopf Scheinwerfer befinden, die alles um sie herum in ein goldbraunes Licht tauchen sollen.
»Ähm, willst du die nicht? Soll ich sie für dich zu dem Mülleimer da vorne bringen?«
Erst sehe ich nur, wie sein Mund sich bewegt, dann realisiere ich, dass er offenbar mit mir spricht. Er hält mir die Papierbälle hin, doch statt zu antworten oder ihm die Bälle abzunehmen, starre ich auf seinen rechten Unterarm. Erist schlank, aber muskulös und seine Haut ist von einem gleichmäßigen Olivbraun. Aber seltsamerweise sind da noch viel mehr Farben. Alle Farben! Rot, Gelb, Blau, Türkis, helles Türkis, dunkles Türkis, eine Art Petrol, Schwarz, okay, Schwarz ist keine Farbe, ein fast grünes, sehr helles Petrol, ein dunkles …
»Alles okay mit dir?«
Mist, was mache ich hier eigentlich? Ich räuspere mich, doch es hilft nichts, mein gesamter Blutkreislauf konzentriert sich auf mein Gesicht, meine Wangen glühen und, ohne ihn anzusehen, nehme ich ihm den Müll aus der Hand und beginne, ihn in meine Tasche zu stopfen.
»Was ist, was willst du überhaupt?«, frage ich verlegen.
Warum zum Kuckuck lasse ich mich hier eigentlich von irgendeinem fremden dahergelaufenen Typen so verunsichern?
»Sorry, wenn ich dich gestört habe. Ich wollte dir nur einen Tipp geben. Ich habe beobachtet, wie du hier gezeichnet hast. Du hast ziemlich unzufrieden gewirkt, deshalb habe ich dir geraten, die Perspektive zu wechseln. – Falls du weißt, was das bedeutet.«
Er steht nun wieder, die Hände in die Hosentaschen seiner Jeans gesteckt, und grinst mich an.
Mit einem Satz baue ich mich vor ihm auf, Hände in die Hüften, und versuche meinen Augen einen eindrucksvoll erbosten, gleichzeitig absolut selbstsicheren Ausdruck zu verleihen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir das gelingt.
»Natürlich weiß ich, was das bedeutet. Und danke, aber ich brauche keine Tipps. Alles bestens.«
Der Blödmann grinst immer noch.
»Ist schon gut, es war nur nett gemeint. Ich meine, klar will jeder Architekt, dass man sein Schaffen erst mal aus der Frontalen betrachtet. Aber wenn du etwas zeichnest, insbesondere so ein imposantes Bauwerk wie dieses, solltest du vielleicht weiter denken. Ich meine, wie wurde das Gebäude in seine Umgebung eingebettet, wie sehr harmoniert es damit oder auch nicht. Und die Besonderheiten sind manchmal einfach besser aus – ja, aus einer anderen Perspektive zu erkennen. Oder soll das eh nur so was wie ein Postkartenmotiv werden?«
»Ich … das … ach, vergiss es. Glaub mir, ich habe diese Perspektive aus gutem Grund gewählt«, behaupte ich. »Weißt du überhaupt, welcher Architekt das Alte Museum …«, beginne ich mit dem etwas hilflosen Versuch, seiner Provokation den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und sehe dabei wahrscheinlich nicht
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