Sommerflimmern (German Edition)
Hand, holt den Zeichenblock und die Stifte wieder heraus und legt mir alles auf meinen Schoß. Anschließend kramt er in seiner Tasche.
»Hier, falls noch ein Typ vorbeikommt und dich bei der Arbeit stört.«
Lächelnd hält er mir seine geschlossene linke Hand hin. Ich zögere kurz, doch dann halte ich ihm meine hin und öffne sie. Er legt mir einen Radierer hinein.
»Okay, ich muss mich beeilen. Ich habe einem Freund versprochen, ihm zu helfen. War wirklich schön, dich kennengelernt zu haben, Charlotte. Mach’s gut.«
»Ähm, ja, danke, du auch.«
Ich sehe ihm nach, wie er die Stufen zum Dom hinuntereilt. Dabei legt er sich den Gurt seiner Tasche quer über die Schulter, schiebt die Tasche auf seine rechte Hüfte und streicht noch einmal sein Haar zurück. Unten angekommen zögert er. Schaut erst nach links, dann nach rechts. Bestimmt überlegt er, wie er jetzt am schnellsten zu seinem Freund kommt. Obwohl, bestimmt gibt es gar keinen Freund. Er war einfach nur furchtbar gelangweilt von mir. Ist ja auch egal. Was ist denn jetzt los? Er dreht sich um und springt die Stufen wieder hoch. Dabei sieht er mich viel zu ernst an. Oh, nein, er will sein Radiergummi zurück! Wieso habe ich der blöden Kuh eigentlich einen meiner besten Radierer gelassen, denkt er sicher. Ich halte ihn noch immer in meiner rechten Hand, die sich jetzt fest um den Radierer schließt.
Als Juan mich erreicht, wird es seltsam. Nein, ich werde seltsam.
»Ich habe ihn nicht mehr. Verloren. Ja, genau, ich habe ihn verloren«, behaupte ich im trotzigen Tonfall einer Fünfjährigen. Juan sieht mich an, als sei ich ein Forschungsobjekt.Allerdings eines, das der Wissenschaft mehr Fragen als Antworten bietet.
»Wie bitte?«
»Den Radierer. Ich habe ihn verloren.«
Er lacht, sieht aber noch immer irritiert aus.
»So, so, und was hältst du da in deiner Hand?«
Ich öffne langsam meine Hand.
»Na, so was. Da ist er ja …«
Ich starre den Radiergummi an und überlege dabei, ob ich mich wohl mithilfe purer Gedankenkraft dematerialisieren kann. Es klappt nicht. Ich konzentriere mich weiter.
»Hör mal, Charlotte, da wir den Radierer ja nun gefunden haben …« Ich schaue kurz auf und sehe, dass er nun von einem Ohr zum anderen grinst. Ich konzentriere mich wieder.
»… dachte ich mir, dass du ja vielleicht Lust hast, heute Abend mit mir zu einer Ausstellungseröffnung zu gehen. Der Freund, von dem ich gesprochen habe, ist Fotograf. Ich werde ihm gleich helfen, seine Bilder aufzuhängen. Es ist nichts Großes. Eine nette, kleine Galerie auf der Prenzlauer Allee. Was meinst du? Hast du Lust?«
Okay, Schluss mit dem Auflösungsquatsch. Ich bleibe erst mal hier.
»Ähm, ja, also, klar, warum nicht«, stammle ich.
»Gut. Dann hole ich dich um 20 Uhr ab, okay?«
»Okay.«
»Und wo?«
»Was ›wo‹?«
»Wo soll ich dich abholen?«, fragt er lachend.
Zu Recht. Ich Trottel!
Ich gebe ihm Annas Adresse und er mir seine Telefonnummer.
»Für alle Fälle«, sagt er.
Dann spurtet er wieder los. Diesmal ohne Zögern Richtung Karl-Liebknecht-Straße. Ich sehe ihm nach, bis er in einen der Busse gestiegen ist.
Am liebsten würde ich auf der Stelle aufspringen und Anna alles erzählen, aber – nein. Alles andere kann tatsächlich warten. Ich bleibe und zeichne. Bis zur allerletzten Linie.
W ieder zurück, stürme ich in Annas Wohnung und suche nach ihr.
»Anna? Anna? Annaaa?!«
Ich höre ihr lautes Lachen aus der Küche schallen. Ich werfe meine Tasche in irgendeine Ecke und stolpere fast über meine eigenen Füße, als ich in die Küche eile.
»Ja, ja, das war unglaublich, aber nächstes Mal …«
Anna telefoniert, hat dabei die Füße auf den Tisch gelegt und wirkt nicht, als sei sie bald fertig. Ich kenne sie, sie ist in bester Plauderlaune. Das geht jetzt aber nicht. Ich stehe nun ganz nah bei ihr und versuche es leise, aber bestimmt.
»Anna. Anna, ich muss dir …«
Sie winkt mir mit einer Hand zum Gruß, dreht sich weg und redet einfach weiter. Ich tapse von einem Fuß auf den anderen.
»Anna«, flüstere ich.
Noch mal.
»Annaaa.« Nichts. Diesmal winkt sie mit der freien Hand ab, als wolle sie eine lästige Stubenfliege von ihrem Lieblingsessen verscheuchen.
»Anna!«, brülle ich lauter als beabsichtigt.
Sie sieht mich erstaunt an.
»Hör mal, ich habe hier ein Problem, ich muss jetzt auflegen, lass uns später weitersprechen, ja? Ja, ich fand es auch schön … ja … ich rufe dich an … ja, versprochen …
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