Sommerflimmern (German Edition)
langsam an ihnen vorbei. Die ersten verstehe ich hinten und vorne nicht. An der nächsten Wand beginnt eine neue Reihe. Diese Bilder gefallen mir. Sie zeigen Menschen zu verschiedensten Gelegenheiten, meist Alltagssituationen. Auf den ersten Blick flüchtig gezeichnet, entdecke ich bei näherem Hinsehen immer mehr Details. Dann, beim nächsten Bild, erstarre ich. Ich glaube, meine Augen und mein emotionaler Haushalt spielen mir gerade einen bescheuerten Streich. Ich sehe Juan auf einer der Zeichnungen. Ich sehe mir das Bild aus der Nähe und mit Abstand an, aber das ändert nichts. Sicher, er sieht jünger aus, vielleicht wie 15 oder 16, aber es ist und bleibt Juan. Mit einem Fahrrad.Es sieht aus, als würde er gleich auf das Rad springen, sich aber kurz vorher noch einmal zum Betrachter umdrehen. Sein Blick ist ernst. Fast ein wenig beunruhigt. Mein Gott, denke ich, das kann nur von seiner Mutter sein. Mir laufen unentwegt Schauer über Rücken und Arme, als ich mich langsam vorbeuge, um den Namen zu erkennen. Ich werde enttäuscht. Da steht ›S. Stein‹. Aber wieso sieht der Typ auf dem Bild dann aus wie Juan? Das muss ich ihm zeigen. Ich sause in den ersten Raum zurück und renne Juan dabei fast um. Er fängt mich mit seinen Armen auf.
»Was ist denn mit dir los? Ein Geist? Ufos? Spinnen? Oder musst du aufs –?«
»Juan! Da ist ein Bild und auf dem Bild bist du!«
Juan lacht laut los.
»Echt? Hm, sehe ich wirklich so durchschnittlich –«
»Nein, wirklich, das bist du! Und erst dachte ich sogar, dass das Bild von deiner Mutter ist, weil das alles so Zeichnungen sind und du hast ja davon erzählt, aber der Maler heißt anders. Stein oder so.«
Juan lässt mich wortlos stehen und geht mit großen Schritten in den nächsten Raum. Als ich ihn eingeholt habe, steht er schon vor dem Bild, von dem ich ihm gerade erzählt habe. Eine Hand bedeckt seinen Mund, mit der anderen stützt er sich an der Wand ab. Er starrt unentwegt auf die Zeichnung.
»Hey. Was ist los?«, frage ich leise.
Er löst sich von dem Bild und geht zum Nächsten, dann zum Übernächsten und Übernächsten, bis er alle Zeichnungen von ›S. Stein‹ gesehen hat. Noch immer liegt seine Hand auf seinem Mund. Er beachtet mich gar nicht mehr, sieht sich alle Bilder wieder und wieder an.
Ich schiebe zwei der Hocker herüber und setze mich auf einen. Irgendwann tritt er ein paar Meter zurück und sieht sich die Bilder aus dieser Entfernung an. Schließlich dreht er sich zu mir und starrt mich an. Aber ohne mich wirklich anzusehen. Er ist blass, seine Augen sehen jetzt ein wenig aus wie auf dem Bild mit dem Fahrrad. Dann kommt er zu mir herüber, lässt sich auf den Hocker neben mir fallen und sinkt in sich zusammen. Ich nehme seine Hand. Sie ist kalt und zittert.
»Juan, was ist los?«, frage ich sanft.
Er schluckt mehrmals, bevor er sprechen kann. »Stein. Das ist der Mädchenname meiner Mutter.«
Beim letzten Wort sinkt er noch tiefer in sich zusammen und bedeckt sein Gesicht mit den Händen. Ich stehe auf, gehe vor ihm auf die Knie und nehme seine Hände von seinem Gesicht. Ich umschließe seine Wangen mit meinen Händen und beginne, sein Gesicht mit zarten, kleinen Küssen zu bedecken. Er legt seine Arme um mich und für einige Minuten halten wir uns schweigend und regungslos gegenseitig fest im Arm.
Bis uns eine viel zu laute, raue Stimme auseinandertreibt.
»Herr Ruiz? Oh, entschuldigen Sie …«, sagt der Mann, der bei unserer Ankunft telefoniert hat.
Juan räuspert sich kräftig und streift sich sein Haar aus dem Gesicht. Wir stehen gleichzeitig auf.
»Nein, nein, kein Problem. Sie sind Herr Miltenberg, richtig?«
Juan geht auf Herrn Miltenberg zu, sie reichen sich die Hände.
»Ich grüße Sie, Herr Ruiz. Ich wollte mir nicht nehmen lassen, Sie auch persönlich kennenzulernen …«
Die beiden gehen zusammen zurück in den ersten Raum. Ich bleibe hier, sehe mir noch mal in Ruhe die Zeichnungen von Juans Mutter an und warte, bis er fertig ist.
Eine halbe Stunde später verlassen wir die Galerie. Wir gehen ein paar Meter ohne Berührung und ohne ein Wort, bevor Juan plötzlich stehen bleibt und meine Hand nimmt.
»Charlotte, ich kann dir gar nicht sagen, wie gut es ist, dass du gerade dabei gewesen bist. Ohne dich wäre ich wahrscheinlich … durchgedreht. Du glaubst nicht, wie viel aufgeblasenen Small Talk man mit Kunst-Szene-Leuten zu bewältigen hat. Und deshalb … danke.«
Er küsst meine Hand und wir gehen Arm in
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