Sommergayflüster
einem Club kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Raffaels blaue Augen, sein schwarzes Haar, die gebräunte Haut und sein Lachen – einfach alles an ihm.
Sandro seufzte laut. Die Erinnerungen an ihre kurze, aber sehr intensive Zeit kehrten jäh zurück. Doch anstelle eines Glücksgefühls verspürte er etwas Erdrückendes. Noch wusste er ja nicht, was auf ihn zukam, ob es wieder so werden würde wie damals, als alles noch so unbeschwert war.
Er atmete tief durch. Was glaubte er eigentlich?
Vermutlich hatte Raffael gar nicht mehr an ihn gedacht. Denn seit ihrer Liebelei im Sommer hatten sie sich weder gesehen noch sonst irgendwelchen Kontakt zueinander gehabt. Raffael wollte es so, aus privaten Gründen, hatte er gesagt.
Zum Abschied hatten sie sich am Strand geliebt und Raffael hatte ihm ins Ohr geflüstert: „Ich bin total verknallt in dich, und wenn du dasselbe empfindest, wird diese Liebe halten – in genau einem Jahr treffen wir uns wieder auf deiner Insel. Nur du und ich und das angenehme Rauschen des Meeres. Same day, same time – versprochen?“
„Versprochen.“
Sandro hörte jetzt noch jedes Wort, die aufregende Stimme Raffaels, als wäre es erst Stunden her. Doch leider waren es nur Erinnerungen. Heute ärgerte er sich darüber, damals keine Handynummern ausgetauscht zu haben, aber Raffael hatte auch das nicht gewollt.
Im vergangenen Jahr hatte er sich immer wieder die gleiche Frage gestellt, welche Gründe Raffael dafür gehabt haben könnte. Er hatte sich so nach ihm gesehnt, dass die Gefühle heute noch dieselben waren. Das wusste er spätestens jetzt, wo er mit Herzklopfen hier oben stand.
Ein laues Lüftchen blies ihm um die Nase, und er spürte, wie der Wind sanft über seine Oberarme und durch sein Haar streifte. Die Luft roch salzig und nach Meer. Er atmete erneut tief durch. Endlich Urlaub!
Dennoch war er unfähig, den ganzen Stress der letzten Zeit von sich abzuschütteln. Vermutlich würde ihm das erst mit dem Erscheinen Raffaels gelingen, auch wenn sich sein langes, sehnsüchtiges Warten unter Umständen gar nicht bezahlt machen würde. Er hoffte jedoch inständig, Raffael möge auftauchen, um da fortzufahren, wo sie vor einem Jahr aufgehört hatten.
Sandros Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. Langsam bewegte er sich auf den massiven Bodenplatten voran, die ihn zum Haus führten. Das paradiesische Anwesen erstreckte sich mit dem Pool und den schattigen Plätzen sowie den wunderbar gepflegten Gärten über das ganze Felsplateau. Er liebte den wunderbaren Ausblick auf das Meer. Das nächstgelegene Festland, dort, wo sie sich zum ersten Mal begegnet waren, war nur mit dem Boot erreichbar und von hier aus bloß als kleiner Punkt in der Ferne zu erkennen.
Vor dem Eingang, der von zwei prächtigen Marmorfiguren flankiert war, hielt er inne. Er hatte das Dienstmädchen, das während seiner Abwesenheit permanent mit dem Boot hierherkam und für Ordnung sorgte, vor ein paar Tagen ausführlich darauf hingewiesen, dass er bei seiner Ankunft seine Ruhe haben wollte und ihr freigegeben. Hastig holte er den Schlüssel aus seiner Hosentasche, schloss auf und öffnete die Tür. Im Flur war es angenehm kühl; die Klimaanlage gab ihr Bestes. Sandro zog seine Schuhe aus und lief auf dem Marmorboden ins Schlafzimmer. Er liebte diesen Raum mit der mächtigen Glaswand, die ihm ein atemberaubendes Panorama bot. Rechts führte eine Tür nach draußen. Sandro ging hinaus und trat auf den Granitboden. Zu beiden Seiten neben ihm befanden sich zerklüftete Felsmauern, zwischen denen eine schmale Terrasse eingebettet lag. Ein paar hohe Grünpflanzen in breiten Töpfen verliehen dem Ort eine bezaubernde Note. Abermals atmete er die salzige Luft ein und schloss die Augen. Hoffentlich würde Raffael kommen.
***
In der Höhle am Strand herrschte trotz des Vormittags bereits eine erdrückende Schwüle, und dennoch bot der Unterschlupf Schutz vor der tagsüber brütenden Hitze auf der Insel. Raffael war bereits seit Stunden auf den Beinen. Sein Herz klopfte stark in seiner Brust. Auch wenn er keinen Terminkalender besaß, wusste er, dass heute ein ganz besonderer Tag war. Er hatte an der Höhlenmauer mit einem spitzen Eisenteil Striche eingekratzt – und dies ein ganzes Jahr lang. Ständig hatte er in den letzten Wochen nachgezählt, ob er sich auch nicht verrechnet hatte. Doch er war sich sicher, dass sie sich vor einem Jahr kennengelernt
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