Sommergewitter
machen ist, etwas, das unser Leben für immer verändern wird.
Vergangen waren die Witzchen vom Mittag und von seiner sportlich jung gebliebenen Art war nichts mehr zu spüren. Wie auch Jonas wirkte mein Vater auf einmal ganz anders: Ich sah ihn plötzlich als einen übergewichtigen, zuckerkranken Mann, der seiner Familie zuliebe auf seine Träume verzichtet hatte.
Ich erschrak. Was war nur heute mit mir los? Ich liebte meinen Vater doch, wie konnte ich ihn nur so sehen . . . so hilflos. Wieso zweifelte ich plötzlich an allem?
Ginies Vater war ein ganz anderer Typ, gesünder, muskulöser, lauter, geradeheraus und straight, jemand, der mitten im Leben steht, auch wenn er es im Grunde nie richtig in den Griff bekommen hatte und jetzt die Hilfe von Schwester und Schwager brauchte. Er riss die Beifahrertür auf und brüllte gegen den im gleichen Augenblick anrollenden Donner: »Was ist passiert?« Mit einem Satz war er bei mir und ergriff meine Schultern.»Wo ist Ginie?« Er schüttelte mich, Angst stand in seinen Augen. Ich wusste: Er hatte Ginie nicht zum See fahren lassen wollen, er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich nicht genug gekümmert, weil er sie gegen ihren Willen hierher verfrachtet hatte. »Annika, wo ist Ginie?«
Ich quiekte auf wie eine Maus, die von der Katze gepackt worden ist. Wo, wo, wo? Wenn ich wenigstens gewusst hätte, wohin sie gegangen war! Wirklich nur in die Büsche? Oder vielleicht weiter? Vielleicht zum Baden? Konnte Ginie überhaupt schwimmen?
»Ihr ist vielleicht schlecht geworden«, sagte Jonas. »Wir . . .«
»Schlecht geworden?«, rief mein Onkel und ließ mich so ruckartig los, dass ich fast in den Matsch kippte.
»Vor Hitze. Sie schien die Sonne nicht zu vertragen.«
»Was? Soweit ich weiß, hatte sie damit noch nie Probleme! Wo wart ihr bisher? Wo habt ihr schon gesucht?« Mein Onkel wandte sich an Jonas und Rüdiger. »Wir müssen uns aufteilen. Beeilung!«
Kurz erklärte ihm Jonas die Lage. Steffi, bleich wie der Mond, floh zu meinem Vater ins Auto. Rüdiger war unschlüssig, sein Blick jagte zwischen mir und meinem Onkel hin und her. Schließlich ergriff er meinen Arm, schleppte mich zum Wagen und zog die Fahrertür auf. »Herr Senkel, Ihr Schwager sollte sich nicht so aufregen, wahrscheinlich ist doch gar nichts passiert. Man kann sich hier in dem Gebiet schon mal verlaufen. Vielleicht hat sie sich auch wegen des Regens untergestellt!«
»Das ist nett von dir, Rüdiger, dass du uns beruhigen willst«, sagte mein Vater langsam, er schien gar nicht zubemerken, dass auch er jetzt nass wurde. »Aber ist sie wirklich schon zweieinhalb Stunden weg?«
»Fast drei«, antwortete Rüdiger zerknischt.
»Dann rufen wir die Polizei.«
»Vielleicht gibt es aber doch eine ganz harmlose Erklärung: Ginie hat sich verirrt oder . . .«
»Nein. Drei Stunden sind zu viel. Was auch immer passiert ist, ich werde diesmal nicht derjenige sein, der zu lange zögert.«
Mein Vater stöhnte, wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und griff nach seinem Mobiltelefon. Ich konnte hören, wie er davon sprach, dass Ginie die Gegend nicht kannte und dass der See gefährlich und seine Ufer extrem steil waren. Auch die Spanner erwähnte er und seinen Schwager, der wie von Sinnen losstürmen wolle, um seine Tochter zu suchen. Dann hörte ich nach einer Weile die Wegbeschreibung, die er den Polizisten gab, während in meinem Kopf immer wieder der lächerliche, ungewollt komische, der Situation völlig unangemessene Reim herumging: »Fast drei.« – »Rufen Polizei.« Während mein Vater uns Mädchen bat, im Auto auf die Polizisten zu warten, wiederholte ich den Reim in Gedanken, veränderte ihn: »Eins, zwei, drei, dann kommt die Polizei!« Meine Lippen bebten und bibberten, meine Zähne schlugen aufeinander, ich zitterte und schlotterte, ich reimte zwanghaft und wohl unter Schock und ich konnte erst damit aufhören, als ich schon eine ganze Weile im Trockenen auf dem Fahrersitz saß und alle außer Steffi und mir längst im Wald verschwunden waren.
Freitag, 18 Uhr
»Mensch, Annika! Das ist ja ein Albtraum. Das ist wie in dem Buch, das ich lese – ein Albtraum.« Steffis Stimme kippte, ihr Atem ging schnell.
Das Gewitter musste mittlerweile direkt über uns sein. Der Himmel hatte sich verdunkelt, auf die grellen Blitze folgte fast unmittelbar das Donnergrollen, der Wind riss Zweige von den Bäumen, der Regen hämmerte aufs Dach, wie Hagelkörner prasselten die Tropfen
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