Sommergewitter
auf die Windschutzscheibe und an den Seiten flutete das Wasser nur so herunter. Von der Welt draußen war kaum etwas zu erkennen. Dort wurde inzwischen im modrigen, dornigen, verdreckten, versifften, gottverlassenen Gestrüpp nach Ginie gesucht. Keine Kuhle, kein Erdloch, keine Sandwehe, in die die Jungen und Männer nicht rutschten. Wie oft sie sich wohl erschraken, wenn sie irgendetwas sahen, das menschlich sein könnte? Einen alten Schuh, ein weggeworfenes Stück Stoff, eine Plastiktüte mit Müll, eine hautfarbene Kinderpuppe, deren schmutzverschmierter Bauch von fern aussah wie ein nackter Fuß.
»Meinst du, sie finden sie?«, flüsterte ich und starrte meine nackten Oberschenkel an, so als könnte ich nicht begreifen, dass gerade eben noch ein warmer, schöner Sommertag gewesen war und ich deshalb kurze Hosen trug.
»Ich weiß nicht«, sagte Steffi. »Ich hab Angst.«
Die hatte ich auch. Steffi und ich waren ganz allein. Vorsichtshalber verriegelte ich das Auto.
»Was machst du denn?«, fragte sie.
»Wenn der noch hier ist . . . wir sind ganz allein.«
Ich brauchte nicht zu erklären, was ich meinte. Sie riss die Augen auf, dachte das Gleiche wie ich. Was vorher undenkbar gewesen war, eine Gefahr auch für uns, schien jetzt auf der Hand zu liegen. Wer konnte denn wissen, womit wir es zu tun hatten? Was, wenn wirklich »irgendwo einer ausgebrochen« war, wie Rüdiger gesagt hatte? Wenn wir ohne es zu merken wichtige Zeuginnen geworden waren und nun von ihm aus dem Weg geräumt werden sollten? Steffi kontrollierte sofort die anderen Türen, warf gehetzte Blicke aus den Fenstern.
»Wo bleiben die denn?«, flehte sie.
»Die Suche dauert doch!«
»Aber ich will nicht mehr hier sitzen und warten!« Steffi fing an zu schluchzen. »Ich kann nicht mehr! Ich will nicht wissen, was mit Ginie passiert ist! Wenn ich mir vorstelle, dass einer dieser perversen Spanner uns vielleicht die ganze Zeit schon mit seinem Fernglas angeglotzt hat und nur gewartet hat, bis eine von uns aufsteht, um . . .«
Ein abgerissener Ast schlug aufs Autodach.
Steffi schrie auf. »Bestimmt ist ihr was passiert! Sie ist überfallen worden! So kann’s ja nur sein! So was hört man doch jeden Tag! So ist es doch immer! Dauernd grabbeln die Männer einen an. Sogar Jonas ist gleich bei der ersten Gelegenheit rangegangen. Annika, das kommt mir jetzt alles wieder hoch: die Antatscherei und dann die Geschichte in der Hütte!«
Sie grub ihre Finger so fest in meinen Oberarm, dass es wehtat. »O Gott, das ist alles so schrecklich! Das ist nach dem Silvesterfest in der Hütte der schlimmste Tag meines Lebens!«
Ich war verwirrt. »Silvester?« Wie kam sie jetzt darauf?
»Erinnerst du dich denn nicht?«
»Doch, das war nicht so toll, du hast dir den Fuß verletzt, aber . . .«
Das letzte Jahresende hatten wir im Ferienhaus von Rüdigers Eltern im Bayerischen Wald verbracht. Der Wetterbericht hatte Schnee angesagt, wir hatten rodeln und Ski laufen wollen. Im Ort, so hatte Rüdiger uns zuvor erzählt, seien eine Disco, ein Spaßbad und auch sonst allerhand los. Perfekt für uns!
Das war’s dann aber ganz und gar nicht gewesen. Es fing damit an, dass das Spaßbad im Umbau und die Disco schon seit dem Sommer geschlossen war. Außerdem hatte sich das Wetter kurzfristig geändert, es taute. Schon nach dem ersten Rundgang war die Stimmung in unserer Gruppe im Keller, der menschenleere Ort wirkte deprimierend, der Nieselregen nervte. Am liebsten wären wir sofort wieder nach Hause gefahren.
Jetzt, ein halbes Jahr später, in meinen regennassen Sachen, fröstelte es mich noch, als ich an die schlecht geheizte Blockhütte mit den klammen, schweren Bettdecken und präparierten Tieren an den Wänden dachte. Der Blick der todestrüben Augen verfolgte mich bis in den Schlaf.
». . . aber da ist doch nichts weiter passiert.«
»Hast du ’ne Ahnung.« Steffi begann leise und stockend zu erzählen, wobei sie die ganze Zeit zitterte und manchmal bei Blitz und Donner zusammenzuckte.
»Ich war schon lange in Jonas verliebt, das weißt du ja. Schon im Sandkasten hab ich seine Burgen bewundertund ihm meine Förmchen geschenkt. Alle fanden uns niedlich, alle dachten, wir würden mal ein Paar. Das hast du doch auch gedacht, oder?«
»Äh, ja, klar.«
»Aber ich kann nicht so süß, sexy und locker sein, wie alle es von mir erwarten. Ich bring’s einfach nicht. In der Klasse soll ich möglichst spontan und frech sein, immer die Klappe aufreißen, bis nachts
Weitere Kostenlose Bücher