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Sommergewitter

Sommergewitter

Titel: Sommergewitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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schafften es, und als wir die Einfahrt zu unserem Haus erreichten, hörte ich sie   – gepresst und ihren normalen, selbstsicheren Tonfall nur sehr schlecht spielend   – sagen: »Annika, wenn sie jetzt zu Hause ist, dann nehm ich ein heißes Bad und sie muss mir den Rücken massieren! Und wehe, sie macht das nicht . . .«
    Ich lächelte, aber nur kurz, denn schon öffnete meine Mutter die Tür und an ihrem Gesicht konnten wir ablesen, dass es mit der Massage nichts würde. »Ihr habt sie nicht gefunden, nein?«
    »Nein.«
    Meine Mutter nahm uns kurz in die Arme, nickte und sagte: »Ihr seid ganz nass. Duscht heiß und zieht euch um.« Sie lieh Steffi ein Handtuch und frische Sachen, woraufhin diese als Erste im Bad verschwand.
    Ich ging in mein Zimmer. Dort fand ich in einer Ecke Ginies kleinen Rucksack. Während Steffi duschte, durchsuchte ich ihn in der Hoffnung, etwas Aufschlussreiches über das Mädchen zu erfahren, das meine Cousine war und um das ich mich sorgte. Doch der Inhalt war enttäuschend: Kleidung, Waschzeug, Discman, ein Roman, der von der Aufmachung her Steffi angesprochen hätte   – aber kein Kalender, kein Tagebuch, nichts, das einen Hinweis auf ihr Verschwinden hätte geben können. Die einzigen persönlichen Dinge waren mein Willkommensbrief und ein Foto ihrer Mutter. Ich sah mir das in einer Klarsichthülle steckende Bild einen Moment an. Es musste an einem Sommertag in unserem Garten aufgenommen worden sein, im Hintergrund war meine alte Kinderschaukel zu sehen.
    Krank sah sie ja eigentlich nicht aus. Eine schlanke, hübsche Frau in einem geblümten Sommerkleid, die höchstens ein bisschen ängstlich in die Kamera blickte.
    Ich musste meine Eltern unbedingt mal nach ihr fragen. Ginie tat mir richtig leid. Mein Onkel war schon in Ordnung und er liebte seine Tochter über alles, aber richtig trösten und mit ihr reden konnte er bestimmtnicht. Schon gar nicht, wenn er so viel unterwegs war. Vielleicht hatte Ginie gehofft, in mir eine Freundin und Gesprächspartnerin zu finden. Immerhin hatte sie meinen Brief aufgehoben. Also hatte er ihr doch etwas bedeutet!
    Ich seufzte. Wenn ihr bloß nur nichts passiert war! Wenn sie doch nur schon wieder da wäre!
     
    Das Telefon klingelte. Ich nahm mehrere Stufen auf einmal, stolperte ins Wohnzimmer. Meine Mutter hatte die Hand auf den Hörer gelegt, aber noch nicht abgenommen. Steffi hockte mit um den Körper geschlungenen Armen auf der Kante des Sofas und starrte meine Mutter an. Die ließ den Blick nicht vom olivgrünen Apparat, verkrampfte die Hand, atmete so heftig, dass ich das Heben und Senken ihrer Brust unter dem T-Shirt sehen konnte. Ich dachte, wenn sie den Deckel eines Korbs mit giftigen Schlangen öffnen müsste, könnte sie nicht angestrengter aussehen. Es war das erste Mal, dass ich sah, wie meine Mutter Angst hatte. Wieder ein Klingeln. Sie riss den Hörer vom Gerät: »Senkel!«, rief sie viel zu laut.
    Dann, mit normaler Stimme: »Ach, Ingrid, du.« Erleichterung. Schwerfälliges Plumpsen in den Sessel, ein Handgriff zur Nase, zu einem Päckchen Taschentücher auf dem Tisch. »Ja, es ist alles in Ordnung. Das heißt: Nein. Was rede ich denn? Nichts ist in Ordnung. Aber ich kann jetzt nicht mit dir sprechen, Ingrid. Meine Nichte ist verschwunden, es ist alles ganz furchtbar.«
    Meine Mutter versuchte, mit der freien Hand rasch ein Papiertuch aus dem Päckchen zu bekommen, bevordas Nasenbluten einsetzte, sie legte den Kopf in den Nacken, aber es war schon zu spät, das Blut lief und tropfte auf ihr weißes T-Shirt .
    »Lass mich mal, Mama!« Ich griff nach dem Telefon, wimmelte ihre Freundin ab und legte auf. Meine Mutter lief ins Bad. Ich folgte ihr, fragte sie durch die geschlossene Tür, ob sie Hilfe bräuchte.
    »Nein, Annika, danke, ich komme schon klar«, antwortete sie, aber ihrer Stimme nach zu urteilen ging es ihr gar nicht gut.
    Steffi war nicht besser dran. Ihr Gesicht war gleichzeitig rot vor Anstrengung und bleich vor Erschöpfung, sodass es eine ungesunde Scheckigkeit angenommen hatte. Die Haare waren ungekämmt und mein T-Shirt , das zwar unifarben rosa war, aber vorn und hinten deutlich unterscheidbare Kragenausschnitte hatte, trug sie falsch herum. Seit sie alt genug war, sich allein anzuziehen, war ihr so was nicht passiert, da war ich mir sicher.
    »Was meinst du, was geschehen ist, Annika?«
    Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
    »Ich glaube nicht, dass Ginie freiwillig fortgeblieben ist. Dafür gab es einfach

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