Sommerglück
den Schreibtisch und kam erneut bei Dan zum Stillstand. Er war älter und hagerer, als sie ihn in Erinnerung hatte, gezeichnet vom Leben und von der Liebe. Dennoch, er war ihre erste große Liebe gewesen, und das Wiedersehen mit ihm war immer noch prickelnd.
»Jetzt kommen wir der Sache schon näher«, sagte er. »Bis Juni habe ich es schon geschafft … warte noch einen Moment.«
»Lass dir ruhig Zeit.« Sie fühlte sich vom Ansturm ihrer Gefühle erschöpft. Sie wölbte den Rücken und ging zum Fenster, um auf den Fluss hinauszublicken, dabei stolperte sie über einen Keilriemen, der auf dem Boden lag.
Sie streckte die Hand nach dem Bücherregal aus, um sich abzustützen, und schrie überrascht auf.
»Wie kommt denn das hierher?« Zitternd streckte sie die Hand nach dem Gegenstand auf dem obersten Brett des Regals aus.
Dans Augen weiteten sich, und er errötete leicht.
»Das Boot gehört meiner Tochter«, erklärte Bay, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie die kleine grüne Dory herunterhob. »Annie hat es für ihren Vater gebastelt.«
»Erstklassige Arbeit. Bis in die Details – sauber verleimt und verschalt …«
»Er hat versprochen, es immer bei sich zu behalten.«
»Das hat er wohl auch vorgehabt«, sagte Dan, der endlich den Auftrag gefunden hatte. »Hier ist das Bestellformular für eine zwölf Fuß lange Ruderdory. Er hat mir ihr Boot als Vorlage dagelassen.«
»Aber was wollte er mit einer Dory?« Bay sah in Dans klare blaue Augen. »Sean hat einen ganz anderen Geschmack, was Boote betrifft …«
»Es sollte ein Geschenk für seine Tochter sein.«
»Für Annie?« Ihr Herz klopfte.
Dan nickte. »Ja. Das Boot war für sie gedacht. Ich habe aber noch nicht angefangen, wollte lieber abwarten, nachdem ich die Geschichte mit Sean in der Zeitung las. Jedenfalls bestand er darauf – er sagte, es sei ein Geschenk für Annie. Und er wollte, dass ich das Boot baue – und nicht einer meiner Mitarbeiter. Er zeigte mir das Modell bei seinem ersten Besuch, vor ein paar Wochen. Soll ich mit der Arbeit beginnen?«
»Warte lieber noch.« Bay dachte an das Geld, konnte sich keinen Reim darauf machen.
In diesem Augenblick ertönte die laute Hupe im Hof. » DAAAAADDDD !«, schrie Eliza. Dan warf Bay einen entschuldigenden Blick zu, und sie verabschiedete sich mit der Bemerkung, Kinder seien eben Kinder. Sie reichte ihm über den geschnitzten Schreibtisch hinweg die Hand, klemmte sich ohne zu fragen oder eine Erklärung abzugeben Annies Boot unter den Arm und begleitete Dan zum Parkplatz hinaus.
Sie stieg in ihr Auto und legte Annies Boot auf den Beifahrersitz. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss, ließ den Volvo an und kurbelte die Fensterscheibe herunter. Salzige Luft wehte durch den Wagen, zusammen mit den typischen Werft-Gerüchen nach Feinspachtel, Bootslack und Fisch. Sie konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, an den Strand.
Aber als Dan und Eliza den Parkplatz verließen – in einem großen grünen Truck mit der Aufschrift » ELIZA DAY BOAT BUILDERS « in kleinen goldenen Buchstaben auf den Türen –, griff Bay erneut nach Annies Boot.
Es fühlte sich leicht und zerbrechlich an. Sie erinnerte sich, wie sie mit Annie das Balsaholz gekauft hatte, wie Annie es eingeweicht hatte, um es biegsam zu machen … wie sie die Holzteile mit winzigen Zwingen und Gummibändern zusammenhalten mussten, bis der Leim getrocknet war.
Zusammenhalten …
Seans Geheimniskrämerei hatte nichts von ihrer Macht verloren. Bay war sicher, dass Annies Boot und Seans Besuch bei Dan – als er ihm Annies Modellschiff überlassen hatte – Licht in das Dunkel bringen konnten, das sich um sein Verschwinden rankte: Warum hatte er einen ihrer alten Briefe an Dan Connolly aus der Aussteuertruhe geholt, und was verbarg sich hinter all den Rätseln, die er ihnen während seiner letzten Wochen zu Hause aufgegeben hatte?
Sie erinnerte sich, wie viel Mühe sich ihre Tochter gemacht hatte, um ihrem Vater etwas Unvergessliches zu schenken. Annie weinte sich jeden Abend in den Schlaf, dachte an Sean, der sich vor seiner Familie, der Bank und dem Gesetz versteckte, ganz alleine, mit nichts als dem kleinen grünen Boot, das ihm Gesellschaft leistete.
»Sean, wie konntest du nur?«, sagte Bay laut, als sie das Boot in den Händen hielt und sich vorstellte, was Annie sagen würde, wenn sie es sah, wenn sie begriff, dass ihr Vater sein Versprechen gebrochen und es letztlich zurückgelassen
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