Sommerglück
hatte sie das Boot dunkelgrün gestrichen – im gleichen Farbton wie die Kiefern. Und sie hatte den Namen des Bootes mit goldener Farbe auf das Heck gepinselt:
ANNIE
»Damit du nicht vergisst, zu wem du nach Hause rudern musst«, hatte sie gesagt, als sie ihm das Boot überreichte.
»Ich finde es wunderbar, Annie.« Er hatte sie in seine Arme geschlossen und an sich gedrückt.
»Ich habe es für dich gemacht. Stück für Stück. Mom hat mir nur ein bisschen geholfen.«
»Das ist das schönste Geschenk, das ich jemals erhalten habe.«
»Weil du Boote liebst?«, fragte sie, und ihr Herz klopfte heftig.
»Nein, weil du es für mich gemacht hast«, hatte er erwidert, einen Arm um sie gelegt, während er den anderen ausgestreckt hatte, damit sie beide das Boot bewundern konnten. »Es ist einmalig.«
»Wirklich?«
»Wirklich.« Er hatte Annie ein wenig fester gedrückt, und sie war so glücklich wie nie zuvor. »Es gefällt mir so gut, dass ich es keine Sekunde aus den Augen lassen werde. Das ist ein Versprechen. Das Boot wird mich auf Schritt und Tritt begleiten …«
Und er hatte sein Versprechen gehalten. Er hatte das Boot ins Büro mitgenommen, doch als nach ein paar Monaten Renovierungsarbeiten in der Bank stattfanden, hatte er es zu Hause deponiert. Es hatte auf seinem Sekretär gestanden, und als der Sommer kam, hatte er es in einer Papiertüte verstaut und wieder mitgenommen. Annie hatte angenommen, dass es wieder in seinem Büro war, oder auf der
Aldebaran
.
Annie hielt das Modell in der Hand, dachte daran, wie sehr ihr Vater es geliebt hatte. Eine tröstliche Wärme durchflutete sie. Als ihre Mutter sich umdrehte, sah Annie, dass ihr Gesicht kreidebleich war. Sie sah aus, als hätte sie einen Schock erlitten. Die Haut um ihre Lippen hatte einen bläulichen Schimmer. Ihre Hand bewegte sich langsam – hölzern – zur Wange, um ihr Gesicht zu berühren, als sei sie nicht in der Lage, es zu finden. Die Augen waren groß und weit aufgerissen. Ihre blauen, mandelförmigen Augen hatten vor Schreck ihre Form verändert.
Als ihre Mutter den Hörer auflegte, beugte sich Annie über das Boot. Wenn sie schon nicht ihren Vater beschützen konnte, dann wollte sie wenigstens das Boot schützen.
»Schatz.« Ihre Mutter berührte mit zitternder Hand Annies Schulter.
»Ich weiß schon«, flüsterte Annie so leise, dass nur ihr Boot es hören konnte.
»Ich habe schlimme Neuigkeiten.«
»Ich weiß schon«, flüsterte Annie, noch leiser als zuvor.
[home]
8
D ie Trauerfeier fand an einem Mittwochmorgen in der gleichen kleinen weißen Kapelle statt, in der Sean und Bay getraut, die Kinder getauft und Bay und Tara gemeinsam zur Erstkommunion gegangen waren. In der zweiten Reihe sitzend, blickte Tara auf den Hinterkopf ihrer Freundin und dachte an die erste Klasse zurück, als sie beide weiße Kleider und Schleier mit Silberkrönchen getragen hatten.
Die Kinder hielten sich tapfer. Sie benahmen sich mustergültig, trugen ihre besten Sommerkleider und wirkten weit gefasster als Tara beim Begräbnis ihres eigenen Vaters. Sie war damals elf gewesen, in Billys Alter, als er bei einem Verkehrunfall ums Leben gekommen war. Er war betrunken gewesen und frontal mit einem Kombi zusammengeprallt; die Fahrerin des anderen Wagens war auf der Stelle tot gewesen. Tara hatte vor der Beerdigung gegraut – sie hatte nicht gewusst, wie sie die Tortur durchstehen sollte.
Bay hatte ihr zur Seite gestanden. Sie hatte ihr geholfen, das schwarze Kleid anzuziehen, hatte ihre zitternde Hand gehalten. Nun waren sie abermals hier, um Sean das letzte Geleit zu geben.
Wie war es möglich, dass dieser hoch gewachsene, sportliche, beredsame, lebenslustige Mann tot in dieser Kiste lag? Tara starrte den glänzenden Holzsarg an, hätte Sean am liebsten ein letztes Mal wachgerüttelt.
Das Ende war ganz anders als erwartet gekommen. So völlig … unspektakulär, dachte Tara. Alle hatten damit gerechnet, dass Sean mit seiner Beute auf der Flucht vor dem Arm des Gesetzes war. In Wirklichkeit war er tot, hatte ganz allein nur drei Meilen von zu Hause entfernt in seinem Wagen auf dem Grund des Gill River gelegen. Die Polizei ging davon aus, dass die Todesursache die Kopfwunde war, die er sich unter welchen Umständen auch immer auf dem Boot zugezogen hatte. Durch den hohen Blutverlust hatte er die Kontrolle über seinen Wagen verloren.
Tara musterte Bay und die Kinder. Sie wirkten ruhig und gefasst, sangen die Lieder aus dem Gesangbuch mit
Weitere Kostenlose Bücher