Sommerhaus jetzt! - 13 Freunde und der Traum vom Wochenende im Grünen
mir eine Flasche Bier, mit der ich meinen Nacken kühlen sollte, um das Nasenbluten zu stillen. Wie am Schnürchen gezogen hielten wir Kurs auf die Einfahrt zum Kanal am anderen Ende des Sees.
»Für einen Webexperten steuerst du so ein Boot aber ziemlich gekonnt«, lobte ich Niels.
»Jetzt schleimst du dich bei deinem Peiniger auch noch ein, oder was?«, sagte Jörg. »Nennt man das nicht Stockholmsyndrom oder so ähnlich?«
»Wichtiger finde ich im Moment die Frage, wie eigentlich so die wichtigsten Verkehrsregeln für Binnenschiffe lauten«, sagte Niels. »Schließlich müssen wir gleich durch diesen verdammt engen Kanal da hinten. Weiß jemand etwas Näheres?« Andine eröffnete das Brainstorming: »Wahrscheinlich gilt in der Schifffahrt auch irgendwie so rechts vor links, denk ich mal.«
»Es gibt kaum Regeln, glaub ich«, mutmaßte Fabian.
»Ab 1,7 Promille ist alles erlaubt«, schlug ich vor.
»Wenn mich mal einer ablösen würde, könnte ich nachsehen, ob ich eine App finde«, bot Niels an.
»Du lässt mal schön die Hände am Steuer«, befahl Kapitän Jörg. »Entscheidend ist nur, dass du gegensteuerst, wenn was Größeres entgegenkommt. Wegen der Bugwellen, du weißt schon.«
»Ich weiß schon? Was Größeres?« Niels lachte hysterisch.
Am anderen Ende des kleinen Kanals tauchte ein Hausboot auf. Und mit schrumpfendem Abstand zu diesem Boot schwand die Gelassenheit bei uns an Bord merklich. Ich las in der vor Konzentration angespannten Miene von Steuermann Niels wie in dem Lächeln einer Stewardess. Das Hausboot war soeben an uns vorbeigeschippert, und die erste Bugwelle schwappte an die Pressspanwand backbord, da riss Niels, um gegenzusteuern, den Knüppel rum.
Es war ein Lehrstück dafür, warum Glück und Verderben für Anfänger so dicht beieinanderliegen: Die Überaufmerksamkeit, in der Anfänger das frisch erworbene Wissen anwenden, führt sie mal zu besonders klaren und angemessenen Bewegungen, dann aber wieder zu völlig übertriebenen und hektischen Aktionen. Wäre unser Boot ein Auto gewesen, es hätten Reifen gequietscht. Statt Spur zu halten, legten wir einen U-Turn hin, von dem niemand geahnt hätte, dass er mit einem Wasserfahrzeug in so engem Radius möglich war. Unser Boot fuhr nun in dieselbe Richtung wie das Hausboot. Diese groteske Wendung aber stiftete Verwirrung in einem Ausmaß, dass Niels wie auch alle anderen bei uns an Bord wie gelähmt waren. Statt den Motor einfach auszuschalten und langsam kehrtzumachen, wurden wir Zuschauer einer unfreiwilligen Verfolgungsjagd.
Mir waren aus dem Alltag bestimmte irrwitzige Momente bekannt, in denen der Körper für Sekundenbruchteile nicht mehr dem Willen gehorchte: Etwa wenn man der eigenen Hand dabei zusah, wie sie die Tür der Wohnung ins Schloss drückte, obwohl einem gerade zuvor klar geworden war, dass der Wohnungsschlüssel noch im Inneren der Wohnung lag. Trotzdem war man in solchen Augenblicken außerstande, in der Kürze der Zeit noch etwas gegen das eigene verhängnisvolle Tun zu unternehmen. Nun erlebte ich, dass sich ein solcher Moment der Paralyse auch über viele Sekunden hinziehen konnte. In unserer Schockstarre war das Boot zu einem Lebewesen geworden, das seinen ganz eigenen Willen hatte und auf das wir nicht mehr einwirken konnten. Allerdings schien unser Boot nicht das intelligenteste zu sein: Es wollte unbedingt hinter dem Wohnboot her, wollte in das Wohnboot reinpreschen. Unser Boot wollte den totalen Crash.
Als es passiert war, schaukelte die ganze Welt: Szenen wie von einem Videoclip-Regisseur aufgenommen. Die Frau des Kapitäns hielt sich mit einer Hand an der rückwärtigen Deutschlandflagge des Boots fest und machte mit dem anderen Arm Fuchtelbewegungen, als wollte sie ein wildes Tier verscheuchen. Sie trug einen zum Sonnenhut umfunktionierten Regenschirm, und ihre Stimme überschlug sich in derselben Frequenz wie die Stimme ihres geifernden Hundes. Nach dem Zusammenstoß drifteten die beiden Boote auseinander, und Andine fischte den Regenschirmsonnenhut der Unfallgegnerin aus dem Wasser. Unterdessen schien der Wille unseres Boots, uns auf dieser Ausflugsfahrt von Kalamität zu Kalamität zu führen, ungebrochen. Es drehte sich mit dem Bug zum Ufer des Kanals und versuchte, über die Steine und Büsche aus dem Wasser zu schrappen.
»Mootooor aaaaus!«, schrie Jörg.
Niels drückte auf irgendwelche Knöpfe, zog irgendwelche Hebel. Als die Bestie Ruhe gab, fesselte Fabian sie mit einem
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