Sommerhaus mit Swimmingpool
auch eine Frau war. Eine Frau. Kein Mann jetzt. Auch wenn dieser Mann ihr Vater war.
»Ich weiß nicht, Caroline«, sagte ich. »Ich meine, wenn ich jetzt zur Polizei gehe, werden sie Julia Fragen stellen wollen. Morgen. Das wollen wir doch nicht, oder?«
»Das hat doch keinen Sinn. Sie erinnert sich doch an nichts mehr«, sagte Caroline.
»Glaubst du, sie geben sich damit zufrieden? Caroline, bitte! Sie kommen doch mit der ganzen Truppe angerückt. Mit Psychologen und Fachleuten. Mit verständnisvollen Polizistinnen, die sich mit solchen Dingen auskennen. Die wissen, wie man Vergewaltigungsopfer mit Gedächtnisverlust zum Sprechen bringt.«
»Aber wir wollen das doch auch.«
»Was?«
»Dass sie sich erinnert. Dass sie sich erinnert, was passiert ist. Wie der Scheißkerl aussieht.«
Ich überlegte, was ich noch über Amnesie wusste. Was ich vor langer Zeit an der Uni darüber gelernt hatte. Dass sie oft selektiv ist. Dass das Gehirn ein traumatisches Erlebnis blockiert. Manchmal stellt sich die Erinnerung überhaupt nicht mehr ein, sie ist zwar irgendwo, aber kann nur durch den Einfluss von Drogen oder durch Hypnose wieder ans Tageslicht gefördert werden.
Das Erlebnis wird selten ganz ausgelöscht. Doch das Gehirn geht nicht allzu sorgfältig vor, es blockiert oft auch Ereignisse um die traumatische Erfahrung herum. Am Strand hatte Julia mich sofort erkannt, wie später auch Judith, ihre Schwester, Thomas, Alex, ihre Mutter, Emmanuelle und Ralph. Bei vollständiger Amnesie wissen Leute nicht einmal mehr, wer sie sind, sie erkennen ihr eigenes Gesicht im Spiegel nicht mehr, geschweige denn die Gesichter anderer.
Ich hatte Julia unter den gegebenen Umständen noch nicht danach fragen wollen, aber anscheinend war die Blockade in ihrem Gedächtnis schon vorher eingetreten. War ich mit Alex zusammen?, hatte sie gefragt. Wo war ich mit Alex? Sie wusste noch, wer Alex war, konnte sich aber nicht mehr erinnern, dass sie mit ihm zu der anderen Strandbar gegangen war.
Und da war noch etwas. Den ganzen Nachmittag und Abend hatte meine Tochter mich völlig ignoriert. Sie hatte mir auf Fragen kaum geantwortet. Sie hatte mich so gut wie kein einziges Mal direkt angeschaut.
Seitdem sie mich in der Küche gesehen hatte. Mit Judith.
Doch von dem Moment an, da ich sie am Strand gefunden und in meinen Armen zum Auto getragen hatte, und dann hier in Stanleys und Emmanuelles Apartment, während ich sie untersucht hatte, hatte sie mich voller Vertrauen angesehen. Unglücklich, aber voller Vertrauen.
War es denkbar?, fragte ich mich. War es denkbar, dass Julias Gedächtnisverlust schon gestern eingesetzt hatte oder sogar noch früher und dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, mich mit Judith in der Küche gesehen zu haben?
Ich konnte es sie natürlich nicht direkt fragen, ich würde sie auf irgendetwas Harmloses ansprechen, was an dem Tagpassiert war. Wie war der Tag verlaufen? Lisa hatte das aus dem Olivenbaum gefallene Vögelchen gefunden. Wir hatten gefrühstückt. Danach war ich mit Lisa zum Zoo gefahren. Und als ich zurückkam … Als ich zurückkam, war Caroline weg gewesen. Und Ralph und Emmanuelle und Stanley auch. Ich war nach oben gegangen. In die Küche. Wir hatten aus dem Küchenfenster gesehen … Ja, der Wet-T-Shirt-Contest … Julia und Lisa waren abwechselnd auf dem Sprungbrett herumstolziert, als wäre es ein Laufsteg. Sie hatten sich von Alex nass spritzen lassen … Ich erinnerte mich an Julias kokette Pose, daran, wie sie das Haar hochgehoben und wieder losgeschüttelt hatte.
Darauf würde ich beiläufig zu sprechen kommen, wenn sie aufwachte. Ich formulierte in Gedanken schon eine Frage: Weißt du noch, gestern, als du beim Swimmingpool nass gespritzt wurdest? Was für einen Spaß habt ihr gehabt! Nein, das Wort Spaß musste ich weglassen.
»Vielleicht hast du recht«, sagte Caroline plötzlich. »Vielleicht sollten wir Julia vorläufig alle Fragerei ersparen. Daran hatte ich nicht gedacht, dass man ihr lauter Fragen stellen wird. Es wird sie wahrscheinlich nur noch mehr verwirren. Die Polizei. Aber was machen wir dann? Wir müssen doch etwas unternehmen! Ich meine, so ein Scheißkerl darf doch nicht frei herumlaufen!«
»Wir könnten anrufen. Wir könnten anonym anrufen und sagen, ein Vergewaltiger mache die Gegend unsicher.«
Carolines Seufzen ließ mich einsehen, wie albern die Idee war. Ich dachte wieder an Alex. An sein Verhalten am Strand. Ich verdächtigte ihn zwar nicht, aber ich hatte
Weitere Kostenlose Bücher